Rastlos in der neuen Heimat Zypern

Palästinensische Flüchtlinge engagieren sich auf der Mittelmeerinsel für Menschen in Gaza

  • Karin Leukefeld, Nikosia
  • Lesedauer: 4 Min.
»Wenn ich hier am Meer stehe und auf die Wellen blicke denke ich, dass dieses Meer bis an den Strand von Gaza reicht«, sagt Lamia S. und ihre Augen strahlen durch ihre schlichte Brille. »Darum fühle ich mich auf Zypern wie zu Hause«, erzählt die Palästinenserin weiter. Die Menschen hätten sie freundlich aufgenommen, als sie 1991 nach der irakischen Invasion aus Kuwait fliehen mussten und mit anderen palästinensischen Familien auf der Mittelmeerinsel ankamen.

Lamia S. stammt aus einer angesehenen palästinensischen Familie aus Gaza, die heute in alle Winde verstreut ist. Ihre Eltern entkamen den israelischen Truppen nach Israels Staatsgründung 1948 nach Kuwait, wo Lamia geboren wurde, heiratete und drei Kinder zur Welt brachte. Lamia hatte Glück im Unglück der Vertreibung. Anders als die meisten palästinensischen Flüchtlinge war die Familie wohlhabend, Lamia studierte Journalismus und politische Wissenschaften, und auch ihre Kinder sind heute als junge Erwachsene in ihren Berufen erfolgreich.

Reichtum schützt nicht vor Vertreibung, wenn man palästinensischer Herkunft ist, sagt George E., der in Kuwait in der Ölindustrie einen gut dotierten Job hatte. Er ist palästinensischer Christ, seine Familie ist eng mit der von Lamia befreundet. Auch George E. und seine Familie mussten Kuwait damals verlassen. »Wir alle mussten hier auf Zypern neu anfangen«, sagt er und stockt einen Moment, bevor er weiter spricht: »Das war nicht einfach, wir mussten zum zweiten Mal wieder ganz von vorne anfangen.« Den kuwaitischen Pass haben sie behalten können, doch die Kinder beider Familien haben inzwischen die zyprische oder eine andere Staatsangehörigkeit, was ihnen das Leben erleichtern wird.

Das Handy blinkt und brummt, Lamia nimmt ihre Brille ab, um zu prüfen, wer ihrer vielen Bekannten und Freunde ihr eine SMS geschickt haben könnte. Kurz darauf klingelt das Telefon wieder, eine Bekannte aus Gaza ruft an. »Ihre Tochter wird blind«, gibt Lamia das Telefonat kurz darauf wieder und klingt besorgt. »Es geht offenbar furchtbar schnell, und sie hat eine Ausreisegenehmigung nach Ägypten, doch gibt es dort gute Augenärzte?« Lamia, Elias und andere Freunde beraten, ob es nicht besser wäre, die gerade wieder gewählten zyprischen Abgeordneten im Europaparlament zu aktivieren, doch Eile tut Not, und die Abgeordneten sind auf dem Weg in die Ferien. Niemand weiß, warum das Kind plötzlich erblindet, sagt Lamia, die Ärzte in Gaza sind ratlos: »Manche vermuten, dass es mit dem Einsatz der Phosphormunition zu tun haben könnte, der die Familie während des Gazakrieges ausgesetzt war.«

Seit Lamia auf Zypern lebt, ist sie zum Mittelpunkt einer aktiven internationalen Gemeinde von Leuten geworden, die versuchen, den bedrängten Palästinensern in den besetzten Gebieten und im Gazastreifen zu helfen. Sie vermittelt Kontakte, beantwortet Fragen, hilft wo sie nur kann und verfolgt immer und oft ungeduldig das Geschehen in ihrer Heimat. Auch beruflich sorgt sie dafür, dass Geschichte und Gegenwart ihrer Landsleute nicht vergessen werden. In ihrem Verlag, den sie in ihrer neuen zyprischen Heimat eröffnete, verlegt sie Kinderbücher sowie historische und Gegenwartstexte über Palästina, Libanon und Syrien. Mit prächtigen Bildbänden dokumentiert sie die Geschichte der palästinensischen Stickereien ebenso wie das Leben palästinensischer Kinder in den libanesischen Flüchtlingslagern, von diesen selber im Rahmen eines Projekts festgehalten.

Rastlos und mit enormer Energie ist Lamia bei der Sache, auch ihre beiden Töchter treten inzwischen in ihre Fußstapfen: die eine als Fotografin, die andere im Familienverlag. Der Familienreichtum hat Lamia und ihre Kinder vor einem schlimmeren Schicksal bewahrt, wie es die vielen palästinensischen Flüchtlinge ertragen müssen, die in Armut, oft in Lagern und ohne international anerkannte Papiere ihr Dasein fristen.

Die anhaltenden Kriege und Unsicherheiten in der Region, der Stillstand im israelisch-arabischen Friedensprozess vertreiben immer mehr Palästinenser aus ihrer Heimat. Doch nicht nur Palästinenser fliehen, der Bürgerkrieg in Libanon (1975-1990) brachte rund 60 000 libanesische Kriegsflüchtlinge nach Zypern, Kurden kommen aus der Türkei, in den letzten Jahren waren es Tausende irakische Flüchtlinge, die weder Papiere haben noch über finanzielle Ressourcen verfügen und mit bis zu sechs Personen in einem kleinen Zimmer leben müssen.

Die Zahl der illegalen Flüchtlinge steigt so dramatisch auf Zypern, dass Staatspräsident Demetris Christofias kürzlich zu einem Dringlichkeitstreffen nach Brüssel fuhr. Wie Zypern sind auch Italien, Malta und Griechenland von dem ständigen Flüchtlingsstrom betroffen. Die EU versprach, die Polizeikräfte im Mittelmeer aufzustocken und Abkommen mit den »Flüchtlingsdurchgangsstaaten« Türkei und Libyen abzuschließen, um die illegale Einwanderung aus diesen Ländern zu stoppen. »Wichtiger wäre, die Kriegstreiber zu isolieren«, meint Lamia. »Wir Palästinenser wollen alle in unsere Heimat zurückkehren, doch wir werden den Eindruck nicht los, dass das den Großmächten gar nicht wichtig ist.«

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