»2010 wird es kritisch«

Heinrich Alt über Krise, Sanktionen und Erwartungen der Bundesagentur für Arbeit an die neue Bundesregierung

  • Lesedauer: 8 Min.
Es wird nicht mehr lange dauern, bis die Wirtschafts- und Finanzkrise voll auf den Arbeitsmarkt durchschlägt. Auf die Bundesagentur für Arbeit (BA) kommen damit weitere Milliardenlasten zu. Heinrich Alt, Mitglied im Vorstand der BA, hofft auf die Hilfe der Bundesregierung. Mit dem 59-Jährigen, der seit über 30 Jahren in der Arbeitsmarktpolitik tätig ist, sprach Grit Gernhardt.

ND: Die Bundesregierung hat zu Anfang 2009 den Beitragssatz zur Arbeitslosenversicherung gesenkt. War das in der Krise zu kurz gedacht?
Heinrich Alt: Als die Regierung den Beitragssatz senkte, konnte sie die Länge und Tiefe der Krise noch nicht sehen, sonst wäre sie wahrscheinlich vorsichtiger gewesen.

Hätte nicht gerade in der Krise mehr für Förderung und Ausbildung gerade von Langzeitarbeitslosen getan werden müssen, anstatt die BA-Mittel zu kürzen?
Das eine hat mit dem anderen nicht unbedingt etwas zu tun. Dass die Einnahmen durch diese Beitragssatzsenkung reduziert worden sind, ist unbestritten. Über unsere Rücklagen konnten wir die aktive Arbeitsmarktpolitik auf gleichem Niveau einsetzen. Es kommt aber 2010 ein kritischer Punkt. Im Bereich der Grundsicherung finanzieren wir uns nicht über die Beiträge, sondern über Steuermittel. Die Arbeitsmarktpolitik haben wir auch hier nicht zurückgefahren.

Bereits in den ersten sechs Monaten dieses Jahres ist der Fehlbetrag bei der BA durch gesunkene Einnahmen sowie gestiegene Ausgaben für Arbeitslosen-, Kurzarbeiter- und Insolvenzgeld auf über zehn Milliarden Euro angestiegen. Die Reserven werden voraussichtlich noch 2009 aufgebraucht sein. Die Bundesregierung hat ein Darlehen über 20 Milliarden Euro zugesagt. Ist das der richtige Weg, die Betreuung Erwerbsloser in der Krise dauerhaft abzusichern?

Dass es dauerhaft der richtige Weg ist, bezweifle ich, aber es ist der Weg, den das Gesetz vorsieht.

Das Geld muss ja auch zurückgezahlt werden.
Ja, es handelt sich um ein zinsloses Darlehen. Die neue Bundesregierung wird sich überlegen müssen, ob längerfristig neue Finanzierungswege gefunden werden müssen. Man kann die Beitragssätze erhöhen, das ist aber das, was man in der Krise am wenigsten tun will und tun sollte. Es gäbe auch die Möglichkeit, das Defizit der BA aus einem Krisenfonds zu finanzieren. Die Bundesregierung könnte auch darauf verzichten, aus dem Versicherungssystem fünf Milliarden in das steuerfinanzierte System der Grundsicherung zu überführen.

Das Bundesverfassungsgericht hat 2007 die Zusammenarbeit von Arbeitsagenturen und Kommunen in den Jobcentern beanstandet und eine Neuregelung gefordert. Der Vorschlag von Bundesarbeitsminister Olaf Scholz scheiterte nun an der Union. Die BA fordert eine schnelle Entscheidung, auch um die Unsicherheit ihrer Mitarbeiter aufzuheben.

Der Gesetzgeber ist aufgefordert, ein Modell zu entwickeln. Wie dieses aussehen kann, liegt in der Hand der Politik. Die Idee von Herrn Scholz und 16 Bundesländern war es, die derzeitige Mischverwaltung durch eine Grundgesetzänderung verfassungskonform zu machen. Das ist gescheitert. Die entscheidende Frage wird sein, ob die neue Bundesregierung weiter an einer Verfassungsänderung arbeitet oder eine andere Lösung sucht. Wenn die SPD an einer neuen Regierung beteiligt wäre, gehe ich davon aus, dass sie ihr Modell wieder auf die Tagesordnung nehmen wird. Es gibt aber auch Befürworter des Modells getrennter Aufgabenwahrnehmung, in dem eng kooperiert wird. Die BA ist weiterhin an einer engen Zusammenarbeit mit den Kommunen interessiert, weil das für die Menschen die beste Hilfe ist.

Im vergangenen Jahr wurden fast 800 000 Sanktionen gegen Hartz-IV-Bezieher verhängt. Davon mussten aber über 41 Prozent als ungerechtfertigt zurückgenommen werden; wenn Gerichte eingeschaltet wurden, sogar über 65 Prozent. Wie erklären Sie sich diese hohe Fehlerquote?
Ob es immer Fehler sind, muss man sorgfältig betrachten. Wenn wir zum Beispiel jemandem ein Arbeitsangebot vorschlagen und derjenige dem nicht nachkommt, müssen wir sanktionieren. Wenn dann im Verfahren aber nachvollziehbare Gründe, beispielsweise gesundheitliche, für die Ablehnung vorgebracht werden, die uns vorher nicht bekannt waren, kann dies für eine Rücknahme sprechen.

Ist es nicht möglich, solche Einwände zu klären, bevor Gerichte eingeschaltet werden müssen?
Die häufigsten Sanktionen werden wegen Meldeversäumnissen, also verpassten Terminen, ausgesprochen. Wir würden gern mit den Menschen sprechen, sie entziehen sich aber dem Gespräch. Oft könnten Sanktionen verhindert werden, wenn die Leute uns sagen würden, dass sie, aus welchen Gründen auch immer, nicht zum Termin erscheinen können.

Laut dem Institut für Wirtschaftsforschung Halle sind Sanktionen nicht zur Bestrafung geeignet, weil es den meisten Erwerbslosen nicht an gutem Willen fehle.
Diese Untersuchung haben wir mit Interesse zur Kenntnis genommen und werden sicherlich Schlussfolgerungen daraus ziehen. Es ist aber auch so, dass sich 96 Prozent unserer Kunden regelkonform verhalten. Nur gegen vier Prozent laufen Sanktionsverfahren. Das ist sicher wenig, aber wir wissen natürlich, dass es um Menschen geht, deren Existenz bedroht ist. Wir müssen also schauen, ob die Sanktion von den Menschen verstanden wird und ob sie diese als gerechtfertigt empfinden. Wenn sie eine andere Sichtweise haben, empfiehlt sich immer das persönliche Gespräch. Dann kann man immer noch überlegen, ob eine Sanktion nötig ist.

Sind finanzielle Anreize nicht eher geeignet, das »erwünschte Verhalten« zu erreichen?
Finanzielle Anreize sind so eine Sache. Ich kenne viele Menschen, die für kaum mehr als den Hartz-IV-Satz arbeiten gehen. Nun hat die Politik beschlossen, dass Hartz-IV-Empfänger 100 Euro für Schulmaterial bekommen. Ich begrüße das sehr, viele Geringverdiener mit Kindern sagen aber, das könnte ich auch gebrauchen. Wenn wir finanzielle Anreize geben, müssen wir darauf achten, dass die anderen sich nicht benachteiligt fühlen. Grundsätzlich denke ich aber, dass man Menschen auch durch Anreize dazu bringen kann, das Richtige zu tun und nicht ausschließlich durch Sanktionen.

Eine neue Werbekampagne der Bundesagentur für Arbeit rückt erstmals Hartz IV in den Mittelpunkt. Arbeitgeber sollen dazu bewegt werden, Stellen zu melden und Förderangebote für Langzeitarbeitslose wahrzunehmen. Welchen Erfolg kann diese Aufforderung bei schlechter Konjunkturlage haben?
Wir haben diese Kampagne bewusst auf zwei Wirtschaftsbereiche konzentriert, wo wir eine gute Nachfrage nach Arbeitskräften sehen. Das ist einmal das Handwerk, dort sind immer noch fast 70 000 offene Stellen gemeldet. Wir haben in der Grundsicherung derzeit etwa 200 000 Menschen mit einer handwerklichen Ausbildung. Der zweite Schwerpunkt ist der soziale Bereich. Dort steigt die Nachfrage nach Altenpflegern, Krankenpflegern, Erzieherinnen und Sozialpädagogen sogar an. Auch hier haben wir viele Menschen mit einer entsprechenden Ausbildung – 80 000 Arbeitslose in der Grundsicherung sind dafür qualifiziert.

Langzeitarbeitslosigkeit ist besonders in Ostdeutschland ein großes Problem, dennoch wurden Anfang 2009 zahlreiche Fördermaßnahmen gestrichen. Sind qualifizierte Fort- und Weiterbildungen nicht ein wichtiger Schritt aus der Arbeitsmarktmisere?
Die Straffung ist in großem Einvernehmen mit der BA geschehen. Es gab zu viele Instrumente, die Landschaft war unübersichtlich, die Bürokratiekosten waren hoch. Deswegen wurden ähnliche Instrumente zusammengefasst. Wir wollen damit aber nicht in unserer Förderpraxis etwas streichen, sondern mit weniger Instrumenten ein besseres Ergebnis erzielen. Damit erreichen wir auch höhere Transparenz.

Diese Krise bietet aber auch die Chance, dass wir Menschen, die aktuell nicht am Arbeitsmarkt gebraucht werden, qualifizieren können. Die vielen ungelernten Menschen unter 30, die wir haben, werden vom nächsten Aufschwung nur mitgenommen, wenn es uns gelingt, ihnen eine Ausbildung zu verschaffen. Das werden sonst die Arbeitslosen von morgen und die Frührentner von übermorgen.

Gerade in Ostdeutschland betrifft Erwerbslosigkeit Menschen aller Bildungs- und Bevölkerungsschichten. Welchen Weg sehen Sie, neue Stellen zu schaffen, anstatt Arbeitslosigkeit zu verwalten?
Es wäre natürlich die schönste Form der Problembeseitigung, wenn es uns gelänge, insbesondere in den neuen Bundesländern genügend ordentlich bezahlte Arbeitsplätze anzubieten – aber dies kann die BA nicht leisten. Wir haben in den neuen Bundesländern durchaus positive Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt, auch was die Verringerung der Langzeitarbeitslosigkeit angeht. Aber die neuen Bundesländer haben immer noch strukturelle Probleme, obwohl beispielsweise die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung im Verhältnis zum Vorjahr in Ostdeutschland stärker gewachsen ist als in Westdeutschland. Das kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir im Osten eine doppelt so hohe Arbeitslosenquote wie in den alten Bundesländern haben. Die Regierung muss alles unternehmen, dass dort wirklich Arbeitsplätze entstehen. Die Arbeitnehmerschaft dafür steht zur Verfügung und zwar auf allen Qualifikationsstufen.

Viele Menschen können von ihrem Gehalt allein nicht leben. Ein gesetzlicher Mindestlohn könnte die Lösung sein. Würde das nicht auch die BA entlasten?
Ein gesetzlicher Mindestlohn könnte für Bedarfsgemeinschaften aus einer oder zwei Personen helfen. Bei größeren Bedarfsgemeinschaften könnte er allein aber den Bedarf wahrscheinlich nicht decken. Außerdem könnte ein zu hoch angesetzter Mindestlohn auch Stellen kosten und Langzeitarbeitslosen den Weg in Beschäftigung zusätzlich erschweren.

Die FDP spricht sich seit Längerem für eine private Arbeitsvermittlung aus. Droht der BA bei einer schwarz-gelben Koalition nach der Bundestagswahl das Aus?
Wenn die FDP ein Koalitionspartner wäre, rechne ich nicht damit, dass es am Ende der Koalitionsverhandlungen heißt, die BA wird in dieser schwierigen Zeit aufgelöst. Änderungen am System wird es natürlich immer geben. Wir sind ja auch eine lernende Organisation und haben uns bereits deutlich verbessert. Natürlich muss sich ein Unternehmen, das sich mit Arbeitsmärkten beschäftigt, die sich ständig wandeln, ebenfalls anpassen. Die Einführung der Grundsicherung war für die BA zum Beispiel auch ein Riesenwandel. Es wird weitere Veränderungen geben. Die Frage ist nur: Macht man das evolutionär oder revolutionär? Und macht man das so, dass der arbeitsuchende Kunde davon profitiert? In dieser wirtschaftlich schwierigen Zeit wäre jede Regierung gut beraten, soziale Systeme, die helfen, die Krise zu bewältigen, so stabil wie möglich zu halten.

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