Hilde Domin, Hagia Sophia

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 2 Min.

Das ist der Engel aus der Hagia Sophia in Istanbul, früher die Hauptkirche des Byzantinischen Reiches, heute ein Museum. Ein Fund vom Wochenende. Entdeckt hinter Schichten aus Putz. Mindestens siebenhundert Jahre alt, ein Wesen mit sechs Flügeln. Anderthalb mal ein Meter groß.

Der Engel (Foto: dpa) passt zum Gedicht von Hilde Domin, die heute vor hundert Jahren geboren wurde. So, wie die Engel Botschafter einer anderen Welt sind, so betrat die vierzigjährige Hilde Domin, als sie in diesem Alter ihre ersten Verse schrieb, einen anderen Planeten, den der Poesie. »Meine Hand/ greift nach einem Halt und findet/ nur eine Rose«, wird sie später schreiben.

1909 wurde sie als Tochter eines jüdischen Rechtsanwalts geboren, die Familie floh, von 1940 bis 1954 lebte Hilde Palm mit ihrem Mann, dem Kulturhistoriker Erwin Walter Palm, in der Dominikanischen Republik. Mit ihrer Rückkehr nach Deutschland war eine Dichterin geboren, und der Name »Domin« nahm ein Stück Süden mit hierher. Anders als Paul Celan, der mit seinem Schmerz an der Welt scheiterte, sang Hilde Domin ihr Lied heiter und fest diesseits der Menschen, lebenszugewandt; diese Frau hatte sich gleichsam der Zuversicht geschenkt, sie konnte, getroffen vom deutsch verschuldeten Schicksal, doch nicht ins Verstummen getrieben werden. Eine »Dichterin der Rückkehr« nannte sie der Philosoph und Freund Hans-Georg Gadamer.

Aber Heimkehr und Wiederfindung waren ihr nicht Wiederkunft in dem, was war, sondern sollte gelebt werden als »Rückkehr nach vorn«. Zukunft, das »zweite Paradies«. Sie dichtete vom »Zimmer in der Luft«. Engelsboden. Vom Engel der Geschichte, wie ihn Walter Benjamin beschrieb, wollte sie nicht reden, Engel seien zu klug, sich einzulassen ins Schmutzige, so könnten sie selber nicht beschmutzt werden. So schaut das Gesicht aus der Hagia Sophia: mit einem Ernst, so möchte man fantasieren, der sich hinter all den Lagen Mauerstoff doch sicher war, eines Tages wiederentdeckt zu werden. Dem gütigen Antlitz geht nichts vom Licht verloren, das dieses Gute an den Tag bringt. Nichts stirbt ganz von den Erwartungen, hat die Domin, die 2006 starb, gedichtet, »Schläft nur in dir ...«

Was wissen wir von Engeln? Nichts. Bei Schmerzen im Rücken denken wir längst nicht mehr, es könnten Flügel wachsen. Manche reden, als seien schon Flügelkämpfe etwas Göttliches. Angesichts dessen ist so ein Gesicht, ist so ein Gedicht wahrlich ein Trost.

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