Applaus! Aber für wen?

... und immer lockt das Regietheater

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 3 Min.

Der Kreislauf rast. Gesund ist das nicht. Es ist der Kreislauf der Disputgesellschaft. Er kommt immer schneller an seine ewig gleichen Anlasspunkte zurück. Zum Beispiel das Regietheater. Schriftsteller Daniel Kehlmann attackierte es in Salzburg, der »Spiegel« fragte ihn daraufhin, ob er sich wohlfühle in der Gesellschaft derer, die ihm da applaudierten. Kehlmann polemisiert gegen »Eingriffe«, die einen historischen Stoff »mit meinem Leben verbinden und etwa Kohlhaas zu einem modernen Terroristen machen«. Die FAZ spricht genüsslich, ebenfalls im Kreislauf, vom »schauerlichen Theater der Selbstfüllknirpse«, denen »privatlebensmäßig« was »durch die Rübe rauscht«. Eine FAZ-Lieblingsvokabel in Sachen Regietheater.

Es keimt Verdacht auf, der Hass aufs sogenannte Regietheater sei nur Ausdruck von etwas, das man nicht wahrhaben will in Darstellungen des Zeit-Theaters: Es ist dieser Blick in eine beziehungsvernichtende Welt – fast alles wird in einem krassen Gegensatz gesehen zu den Ideen und Utopien der Klassiker, die vom Bürgertum verraten und verkauft wurden.

Das Kunstblut der Gewaltorgien, die Brutalität des Misshandelns, der Frost der Entfremdung – wer in den letzten Jahren Inszenierungen von Castorf oder Kušej, von Thalheimer oder Lösch, von Bischoff oder Gotscheff, von Bieito oder Konwitschny, von Perceval oder Ostermeier sah, der erfuhr etwas von dem, was Hegel jenes »unglückliche Bewusstsein« nannte, das einer »entzweigebrochenen Wirklichkeit« entspricht: Der moralische Pegel ist schwankend und begrenzt; die kapitalen Untaten entziehen sich der Justiz; der forcierte Selbstgenuss höhnt dem Gemeinsinn; Kreditkarten beherrschen den Traum, Glück sei käuflich; am Ende gilt überhaupt nur das als Glück, das einen Preis hat.

Mag sein, dass vom Theater dieser Jahre wenig bleibt, weil es oft ästhetisch unsicher, unausgegoren und flüchtig ist, aber: Dies war Theater, eine Verschleißkunst, doch immer. Aber das gegenwärtige Theater ist energisch und aufgewühlt (ja, auch hilflos!) bemüht, eine Lücke kenntlich zu machen: zwischen der Erfahrung, in diesem Moment auf unserem Planeten ein banales Leben führen zu müssen, und jenen zweifelhaften öffentlichen Erzählungen, die zur kapitalistischen Sinngebung für dieses Leben angeboten werden. Die psychologische Folge dieser Zweifelhaftigkeit: Wenn ich einen Generalsekretär Pofalla sehe, wünsche ich mir einen Kunstblutbeutel von Thalheimer herbei

Vielleicht bestünde ein anderes Theater, wenn wieder diejenigen zum hauptsächlichen Publikum würden, die man aufrichten muss. Den Besserverdienenden aber muss man nicht aufrichten, man muss ihn in den (lediglich gespielten, künstlich hergestellen!) Schmutz stoßen und ihm vorher noch gehöriges Eintrittsgeld abnehmen. Salzburgs Festival war manches Jahr ein Fest, wenn die Saturierten tobten. Dort hat Provokation noch ihren Sinn, wenn sie betuchte Zuschauer darauf aufmerksam macht, dass das Theater, im Sinne Shakespeares, ein »Spiegel der Zeit« ist – diese Zeit ist nun einmal aus den Fugen des bürgerlichen Maßes. Kušej ist für diesen Gedanken günstiger als Flimm.

Die Nutznießer jener Freiheit, die in dieser Gesellschaft immer Recht hat – es tut gut, wenn sie im Theater mal unwillig werden, sich abgestoßen fühlen. Unsere Welt, deren unbestreitbar großer Wert das Gemäßigte und Nichtanarchische ist, bietet angesichts ihrer Defizite so wenige Möglichkeiten, aus der Haut zu fahren und trotzdem bei sich zu bleiben – vielleicht ist das Theater noch eine dieser Möglichkeiten. Verstören ist besser als verschönen. Im Theater dem Eigenen gegenüberzusitzen, also der Welt, wie sie wurde, wie sie ist – dem durchaus schuldigen Bürger möge dies auch künftig Unwohlsein bereiten. Wer solches Theater annimmt, es gar benötigt und zur Aufrauung des eigenen Gewissens sucht, der rettet die Welt zwar ebenso wenig – aber vielleicht sich selber, ein klein wenig und für ein paar unbequeme Stunden.

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