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Erstickte Leidenschaft

Tuola Limnaios zeigt »reading tosca« als eine Neudeutung der Oper Puccinis

  • Karin Schmidt-Feister
  • Lesedauer: 3 Min.

In Koproduktion mit dem Tanzfestival Bregenzer Frühling 2008 wagte sich die Choreografin Toula Limnaios im 150. Todesjahr Giacomo Puccinis an eine tanztheatrale Neudeutung seiner Oper »Tosca«, ohne konkrete Figurenkonstellationen und Handlungsstränge zu bebildern oder narrativ zu verfolgen. Limnaios´ zeitgenössische Tanz-Lesart entwirft unter die Haut gehende Spieglungen für die Gegenwart, in dem sie die dramatischen Bruchstellen und menschlichen Emotionen zwischen Aufbrüchen und permanenten Abstürzen fokussiert. Die Choreografin entdeckt die diesem hochdramatischen Opernstoff innewohnenden Konfliktpotenziale und kreiert eine tanztheatrale Bilderwelt, in der brennglasartig Umschwünge von Schönheit in Gewalt, Anbetung in Manipulation, Leidenschaft in Verrat verdichtet sind.

Mercedes Appugliese, Fleur Conlon, Kayoko Minami, Clebio Oliveira, Carlos Osatinsky, Ute Pliestermann und Hironori Sugata agieren 70 Minuten unter Hochspannung, ein frösteln machendes Septett kongenialer Interpreten. Mit suggestiver Aura formen sie Menschen, die ihre Körperumrisse mehrfach mit Kreide zu bannen versuchen als Zerrissene auf der Flucht vor dem Anderen und sich selbst. Drei Männer und vier Frauen in bunten Sommerkleidern und Stöckelschuhen hockend wie kleingehaltene Engel unter rotierenden Stangen, ein Gesicht verzerrt und gespiegelt im Riesenauge, Frauen in Posen und blitzschnell unisono drehende Männertrios am Boden, stumme Schreie von Menschen im Boden festgerammt, bewegungsunfähig, zitternd, fallend. Mann und Frau als flugunfähiges Zwitterwesen im roten Tuch, ein Meer aus Blut. Aus dem Lautsprecher in der Hand eines Mannes ertönt bruchstückhaft Toscas Arie »Vissi d´arte« (»Nur der Schönheit weiht´ ich mein Leben«) und erstirbt mehrfach bei jedem Druck des Gerätes auf den Leib einer Frau. Szenen erstickter Leidenschaften.

Es sind diese Begegnungen vom gegenseitigen Kleinhalten, die besonders in den Duetten fesselnde Ausdruckskraft bekommen. Da hält ein Mann die springende Frau sicher auf seinen Händen, Sekunden später stößt er sie zurück, sie tritt ihn, er schlägt sie, sie reißt an seinem Körper, er schaut sie an, sie weicht ihm aus – Kreisläufe menschlicher Zerbrechlichkeit. Toula Limnaios choreografiert die schnellen zeitlosen Umschwünge im menschlichen Verhalten, wie Puccini sucht sie den Menschen hinter den Bildern der Phantasie.

In bestechender Teamarbeit hat Komponist Ralf R. Ollertz mit seinem assoziativen Soundtrack gleichfalls Türen zu Puccini geöffnet, durch die, vielfach verzerrt und ins Fortissimo gesteigert wie Brandungswellen, Echos emotionaler Entladungen hervorbrechen, um abrupt von eigenen Klangwelten erdrückt, überlagert, ausgelöscht zu werden. Puccini – der ferne, nahe Klang vom Schicksal leidender Geschöpfe. Die musikalische Dramaturgie verstärkt in beklemmender Korrespondenz die choreografische Fallhöhe vom Verlust gelebten Lebens und erdrückter Leidenschaften.

Toula Limnaios bildkräftige Inszenierung »reading tosca« setzt auf hocheruptive Bewegungssprache, die in ihren Behinderungen und dynamischen Amplituden die menschliche Sehnsucht wie Not zu leben kraftvoll und mehrdimensional in Szene setzt. Nach erfolgreichen Gastspielen in Ecuador und Spanien erlebte »reading tosca« jetzt eine zu Recht enthusiastisch gefeierte Wiederaufnahme in der Berliner Spielstätte.

13.-16.8., Halle Tanzbühne, Eberswalder Str. 10-11, Prenzlauer Berg

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