Dialektik, Chemie und Sozialismus

Vor 175 Jahren wurde der deutsche Naturforscher Carl Schorlemmer geboren

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 4 Min.

Im Sommer 1884, zur Zeit des Sozialistengesetzes, ging bei der Polizei in Darmstadt ein Spitzelbericht ein. Danach war ein Geheimkurier der Londoner Sozialistenzentrale nach Hessen unterwegs, um seinen Genossen wichtige Informationen und das im Ausland gedruckte Parteiblatt »Der Sozialdemokrat« zu überbringen. Ein Trupp von Polizisten brach also auf, den Kurier zu verhaften. Doch der war, wie die Beamten überrascht feststellten, Chemieprofessor in Manchester, britischer Staatsbürger und Mitglied der Royal Society. Und ein solcher Mann sollte Geheimkurier der Sozialisten sein? Hier liege wohl ein Irrtum vor, meinte der leitende Kommissar und zog nach einer Entschuldigung seine Leute ab. Wenig später kursierte in Hessen nicht nur der illegale »Sozialdemokrat«. Es stand darin auch zu lesen, dass ein bekannter Chemieprofessor einen größeren Betrag für die Partei gespendet habe, um diese bei der bevorstehenden Reichstagswahl zu unterstützen.

Dieser bekannte Chemieprofessor war Carl Schorlemmer. Er gehörte zu den engsten Freunden von Karl Marx und Friedrich Engels und beriet beide häufig in naturwissenschaftlichen Fragen. Von dieser Hilfe profitierte vor allem Engels bei seinen Studien zur »Dialektik der Natur«, deren Grundkonzept er am 30. Mai 1873 in einem Brief an Marx erstmals ausführlicher darlegte. Marx wiederum reichte den Brief an Schorlemmer weiter, der ihn mit mehreren Anmerkungen versah. Eine davon lautete: »Sehr gut, meine eigene Ansicht. C. S.«

Als Sohn eines Schreiners wurde Carl Schorlemmer am 30. September 1834 in Darmstadt geboren. Er besuchte unter anderem die höhere Gewerbeschule und absolvierte anschließend eine Apothekerlehre. Nach bestandener Prüfung arbeitete er vier Jahre als Gehilfe in der Schwanenapotheke in Heidelberg. An der Universität hörte er nebenher Vorlesungen bei dem berühmten Chemiker Robert Wilhelm Bunsen, die ihn so faszinierten, dass er 1859 in Gießen selbst ein Chemiestudium aufnahm. Doch nach einem Semester bereits verließ er Deutschland und übersiedelte nach England, um am Owens College in Manchester Privatassistent von Chemieprofessor Henry E. Roscoe zu werden. Auf Grund seiner hervorragenden wissenschaftlichen Arbeiten machte der Autodidakt Schorlemmer eine rasante Karriere. Er wurde zunächst zum Unterrichtsassistenten und danach zum Dozenten befördert. 1874 erfolgte schließlich seine Berufung zum ersten Professor für organische Chemie in England. Selbst an deutschen Universitäten waren damals die Lehrstühle für anorganische und organische Chemie noch nicht getrennt.

In die Wissenschaftsgeschichte ist Schorlemmer vor allem eingegangen als einer der Begründer der organischen Chemie, deren Gegenstand er zudem erstmals präzise definiert hat: »Organische Chemie ist die Chemie der Kohlenwasserstoffe und ihrer Derivate.« Sorgfältig erforschte er die Eigenschaften und den Aufbau der gesättigten Kohlenwasserstoffe (Alkane), die früher Paraffine genannt wurden und eine homologe Reihe mit der allgemeinen Summenformel CnH2n+2 bilden. Er stellte dabei fest, dass durch den Zusatz von CH2 jedes Mal ein Kohlenwasserstoff entsteht, dessen Eigenschaften (z. B. Siede- und Schmelzpunkt) sich von dem vorhergehenden unterscheiden. Sowohl Marx im »Kapital« als auch Engels im »Anti-Dühring« sahen darin ein Beispiel für den dialektischen Umschlag von Quantität in Qualität. Dass nebenbei bemerkt auch Schorlemmer die Dialektik schätzte, war nicht nur seiner Freundschaft mit den Begründern des Marxismus geschuldet. Sondern ebenso der Tatsache, dass er anders als die meisten Naturforscher jener Zeit Hegel gründlich studiert hatte.

Eine seiner wichtigsten Entdeckungen gelang Schorlemmer 1864. Er beschäftigte sich damals mit der Frage, ob die Verbindungen Dimethyl (CH3-CH3) und Äthylwasserstoff (C2H5-H) tatsächlich Isomere sind, wie einige namhafte Chemiker nachgewiesen haben wollten – und wie nicht zuletzt aus der von ihnen vertretenen organischen Typentheorie folgte. Zur Erklärung: Als Isomere bezeichnet man chemische Verbindungen gleicher Summenformel, die aber unterschiedliche Struktur und somit unterschiedliche Eigenschaften aufweisen. Dank einer verbesserten Methodik und größerer Substanzmengen konnte Schorlemmer die Autoritäten widerlegen und zeigen: Dimethyl und Äthylwasserstoff sind identisch (heutiger Name: Äthan). Das war ein Ergebnis, das mit der sogenannten Strukturtheorie der organischen Chemie übereinstimmte, die in der Folge an die Stelle der veralteten Typentheorie trat. Oder, wie Albert Ladenburg in seinen »Vorträgen zur Entwicklungsgeschichte der Chemie« (1887) bemerkte: »Erst nach Erledigung dieser Tatsache konnte eine Gleichheit der vier Valenzen des Kohlenstoffs angenommen werden, die erste Bedingung, um den heute so sehr gebräuchlichen Strukturformeln Vertrauen zu schenken.«

Auch als Autor setzte Schorlemmer für die damalige Zeit Maßstäbe. Neben einer historischen Darstellung »Der Ursprung und die Entwicklung der organischen Chemie« ist hier vor allem sein »Ausführliches Lehrbuch der Chemie« zu erwähnen, welches er gemeinsam mit Roscoe verfasste. Und das Engels wie Marx mit Eifer studierten. Beide bewunderten Schorlemmer im übrigen nicht nur als Naturforscher, sie hielten ihn zudem für einen der bedeutendsten Männer in der europäischen Sozialdemokratie. Dieser Umstand war für andere Wissenschaftler Grund genug, sich von Schorlemmer zu distanzieren, den auch die Deutsche Chemische Gesellschaft wegen geringer Beitragsrückstände als Mitglied wieder ausschloss. Und selbst Roscoe musste, nachdem Schorlemmer am 27. Juni 1892 in Manchester gestorben war, von Engels fast genötigt werden, seinem ehemaligen Kollegen am Owens College einen Nachruf zu widmen.

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