Sand, Tand

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 4 Min.
»Abschlussfeier«: Szenen aus der DDR, Jugend, die sich das Leben nimmt, wie es – nie kommt.
»Abschlussfeier«: Szenen aus der DDR, Jugend, die sich das Leben nimmt, wie es – nie kommt.

Einar Schleefs Erzählung »Abschlussfeier« von 1978 besteht aus Monologen; Armin Petras, Intendant am Maxim Gorki Theater Berlin, bearbeitete sie für die Bühne, Uraufführung nun am »Alten Theater«, dem kleinen Haus des Anhaltischen Theaters Dessau.

An der Ostsee, in einer internationalen Jugendherberge, findet eine Abschlussfeier statt: Jedes Jahr kommen junge Franzosen in die DDR. Chefin, Stellvertreterin, Küchenfrau, Reinemachfrau sowie Gerda und Gisela, zwei Helferinnen: ein Kaleidoskop der Alltagstechniken zwischen Versorgungsproblemen, Berichten an FDJ und Stasi, Anpassung und bescheidenen Frechheiten. Petras weiß, dass aus der Erzählung keine wirkliche Dramatik werden kann. Er treibt die beinahe dokumentarische Tonlage der Schleef-Monologe über Strecken ins Schrille. Er tut es im Verbund mit starken Schauspielerinnen. Drei Spielorte (Bühne: Annette Riedel), drei Szenen.

Ganz oben im 3. Stock das winzige Büro der Chefin, van Goghs Sonnenblumen an der Wand, Marx-Spieluhr auf dem Tisch, französische Marianne-Plastik auf dem Regal, das erhobene Gewehr der Revolutionärin ist ein prima Brieföffner. Ursula Werner: bestechend als verhemmte, aber mehr und mehr ins aufgedrehte Selbstreferat hochfahrende Herbergsmutter. Mit allen politischen Wassern gewaschen. Ihr Monolog: Trompetenstöße der Staatstreue, umlegt gleichsam mit Trommelwirbeln, die Mut machen für den Slalom zwischen fleckfreier Repräsentation nach außen und ermüdender Übermalung innerer Konflikte. Eine zähe sozialistische Fassadenmalerin, die sich im Berufsoptimismus aufreibt, um Reibungen nicht zu offenbaren – die Werner zeigt geradezu rührend, wie diese Reibungen das Gemüt zerledern.

Hilke Altefrohne als gelockte, hosenstraffe Stellvertreterin: missmutig jung, die Zähne zermalmen den Kaugummi, meinen aber dies Leben als Funktionärin, mit Zuträgerdiensten, Postkontrolle überm Wasserdampf und motorischer Gleichgültigkeit. Christel Ortmann und Regula Steiner-Tomic als Küchenfrau und Reinemachefrau hocken in der stieren Unfreude ihres kleinen Daseins, als seien sie nur eine andere Existenzform jener zwei riesigen Topfpflanzen, die sie hereinschleppen.

Im Erdgeschoss dann der Party-Raum, hier fand sie statt, die Tanz- und Saufschlacht der Jugendlichen. Aber quer durch den Raum das sture Losungsband: »Es lebe die deutsch-französische Freundschaft!« Die Regie wagt in dieser Szene nach der Abschlussfeier – und zwar bis zur Strapaze – die Stimmungsschau, eine um sich selbst kreisende Besoffenheit am Grenzübergang zum Kater. Julischka Eichel und Sabine Waibel als Gisela und Gerda: Tanz im Scherbenhaufen, zwischen Luftballons, Büffetresten, Holger-Biege-Sound, Westfernsehen (Sissy und ein schwedischer Pornofilm) sowie einem letzten Bewusstlosigkeitsversuch: dem Cocktail aus allen zusammengekippten Fuselflaschen. Das hat gehörige Abstoßkraft, stößt uns freilich zugleich ins Kreatürliche, Unmittelbare von Lebensinteressen, die mit schlichten Erfüllungsständen, nicht mit hehren Ideen zu tun haben.

Dann wandern wir hinaus, die Franzosen zu verabschieden. Vorm Theater gleichsam der Strand mit einem kleinen Zelt. Dessauer Jugendliche füllen den Ort. Am Ende steht Ursula Werners Chefin allein in diesem Geviert, eine verzweifelt tapfere Patriotin der Tristesse, die immer sein wird. Wie sagte diese lohende, geradezu lüstern lenkende, leitende Frau? »Es ist außenpolitische Werbung, dieser Aufgabe bin ich mir voll bewusst, zu zeigen, wie schön das Leben in der DDR ist.« Diese Schönheit ist: sie sich einreden inmitten von Enge, Züchtigung, unerfüllter Sehnsucht.

Schleefs erzählerische Stärke: die Klaglosigkeit und Aushaltezähigkeit der Porträtierten, sich das lebenslange Grau für Momente eines wie immer gearteten Rausches wegzusaufen, wegzuknutschen, wegzufantasieren. Diese Menschen da nehmen sich das Leben, wie es nie kommt – außer wenn Westbesucher eintreffen. »In Zeiten des Verrats sind die Landschaften schön« (Heiner Müller): der Einbruch der Franzosen als Gleichnis, die andere Welt ist möglich, es reichen Chanel No. 5, ein paar Klamotten – ein bisschenTand: Frieden im Klassenkampf gegen unterdrückte Wünsche. »Was unterscheidet uns von Franzosen«, fragt eines der Mädchen ermattet, »wieso bin ich nichts.« Totenklage ins eigene Leben hinein.

Die Franzosen stieben jetzt davon, wie Jugend allgemein: eine kleine bunte Flucht zwischen den Neubauten hier. Die Szene hat etwas Unwirkliches, als schwirrten Traumfetzen durch die anbrechende Nacht. Ein Mädchen in Weiß trägt ein Honecker-Foto, eine andere haut Tennisbälle in Richtung Zuschauer, ein Buch landet in einer Wasserlache, ein Mädchen in Grün spielt den sehr verfrühten Vamp, ein Videofilmer wirft die szenischen Partikel auf die gegenüberliegende Hauswand, eine Frau schiebt ihr Fahrrad hinten vorbei, das aber ist nicht Theater, das ist ein magischer Punkt Realität, und es liegt die Vermutung nahe, diese Frau ist Besuch aus jener grauen Zone, wie sie blieb trotz bunter gewordenem Deutschland.

Eine Theaterstück-Skizze. Plädoyer für den sogenannten einfachen Lebensentwurf, der sich durch komplizierte Verhältnisse beißen muss. Im Verschleiß das Dasein bejahen – du gehst leutefeundlicher nach Hause.

Nächste Vorstellung: 23.11. Premiere am Gorki-Theater: 14.11.

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