Nicht von dieser Welt

Der Abstieg der Parteien: Das Volk verachtet seine Repräsentanten

  • Jürgen Amendt
  • Lesedauer: 3 Min.

Der Berufspolitiker Helmut Schmidt meinte einmal sinngemäß, wer Visionen habe, solle zum Arzt gehen und nicht in die Politik. Oliver Snelinski hat Visionen und will trotzdem Politik machen. Bei der jüngsten Wahl zum Deutschen Bundestag kandidierte er als einer von insgesamt 167 parteiunabhängigen Einzelbewerbern. Der Lehramtsstudent hat eine Vision des Parlamentarismus der Zukunft, und die sieht grob skizziert so aus: Über die Zweitstimme, bislang entscheidend für die Zusammensetzung eines Parlaments, bestimmen die Parteien nur noch zur Hälfte die Sitzverteilung, die zweite Hälfte setzt sich aus den Direktkandidaten der Wahlkreise zusammen.

Einer wie Oliver Snelinski ist eigentlich prädestiniert für eine Parteikarriere: Schülersprecher war er früher und schon immer politisch interessiert. Er hat einen Verein gegründet, mit dessen Hilfe er gegen die Politikverdrossenheit ankämpfen will. »Das Volk will was« nennt sich dieser Verein und wahrscheinlich liegt da das Problem: Laut Grundgesetz wirken die Parteien an der politischen Willensbildung des Volkes mit, davon, dass das Volk an der politischen Willensbildung der Parteien mitwirken darf, steht im Grundgesetz nichts.

Wer heute politische Ideale hat, bleibt den Parteien fern, und die, die noch ein Parteibuch haben, sind Fremdkörper, auf die der Parteiapparat allergisch reagiert. Anpassungsfähigkeit, die mit der Kunst, Kompromisse zu schließen, verwechselt wird, ist gefragt. Die Parteiendemokratie ist in einer Legitimationskrise. Wirklich trauen kann man den Parteien und ihren Vertretern nicht mehr. Wer im Wahlkampf A sagt, muss im Bundestag dann doch für B stimmen, weil die Parteidisziplin dies erfordert. Das ist nicht neu, neu ist nur, dass ein wachsender Teil der Bevölkerung darauf mit Überdruss reagiert. Das Vertrauen in die Parteien ist laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstitut TNS Emnid seit 1995 von 41 auf 17 Prozent gefallen. Die Umfrage stammt aus dem Jahr 2005, kurz vor der Bundestagswahl. Damals meinten noch 84 Prozent der Befragten, sie würden trotz aller Kritik zur Wahl gehen. Am 27. September 2009 erreichte die Wahlbeteiligung mit 70,8 Prozent einen historischen Tiefstand. Die Bürger verachten ihre öffentlichen Repräsentanten.

Viele Wähler wissen gar nicht mehr, wo sie ihr Kreuz aus welchen Gründen machen sollen. Also wählen sie mal CDU, mal SPD, mal grün, mal liberal, mal ganz links. Neun Prozent der Gewerkschaftsmitglieder und gar elf Prozent der Arbeiter insgesamt haben am 27. September FDP gewählt. Wechselwähler leihen den Parteien ihre Stimme nur, die Bedeutung von Parteien schwindet. Die parteilosen Einzelbewerber sind das komplementäre Gegenstück dazu. Auch Oliver Snelinski hat nicht das, was man von Parteipolitikern alten Schlags kennt: ein geschlossenes und weitgehend zementiertes Weltbild. »Ich kann doch heute nicht mit Sicherheit sagen, ob ich in vier Jahren die Idee des ›Garantierten Grundeinkommens‹ noch für richtig halte.«

Soviel Erschütterung im Denken, können sich Parteipolitiker nicht leisten. Als die grüne Abgeordnete Halo Saibold im Bundestagswahlkampf 1998 aus Umweltschutzgründen einen höheren Benzinpreis und weniger Flugreisen befürwortete, war damit auch das Ende ihrer politischen Karriere besiegelt. Das sie »politisch naiv« sei, war noch der geringste Vorwurf. Dabei hatte Halo Saibold nur ausgesprochen, was im grünen Wahlprogramm stand und heute Thema jeder Klimaschutzkonferenz ist.

Auch Oliver Snelinskis Ideen sind nicht von dieser Parteienwelt. Er ist für ein bundesweit einheitliches Bildungssystem, plädiert für die Verringerung der 16 Bundesländer auf einige wenige Länder und dafür, dass es nur noch eine Krankenkasse gibt. Diese naive Vernunft schreckt die Parteien ab. Und seien wir ehrlich – es schreckt auch die meisten Wähler ab. Nur eine Minderheit wollte vor elf Jahren die Wahrheiten einer Halo Saibold hören. Von Oliver Snelinskis Idee für eine Wahlreform fühlte sich das Wahlvolk ebenfalls abgeschreckt. 1442 Stimmen (1,1 Prozent) hat er in seinem Wahlkreis Berlin-Lichtenberg geholt. Ein Einzelkämpfer im Reich der Parteien.

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