Erinnerungsräume oder Freud lässt grüßen

Rainer Merkel: »Lichtjahre entfernt« handelt von einem Mann, der sich selbst fremd ist

  • Katrin Greiner
  • Lesedauer: 2 Min.

Schauplatz New York. Träge Ventilatoren, schmutzige Wohnung, muffige U-Bahn-Stationen, Starbucks. Reine Staffage, bekannte Requisiten, durch die der Familientherapeut Thomas Kaszinski eilt, um doch noch seinen Flug zu erreichen. Er hat gerade ein missglücktes Wochenende mit seiner langjährigen Freundin hinter sich – ohne Gespräche, ohne harmonische Momente, ohne Sex. Nach und nach, beim Aufräumen der fremden Wohnung, beim Durchqueren der Metropole mit öffentlichen Verkehrsmitteln, betritt er die »Erinnerungsräume« seiner zerbrechenden Beziehung, um den einen Moment zu finden, an dem ihre gemeinsame Geschichte begann, keine mehr zu sein.

Dass der Autor Rainer Merkel selbst Psychologe ist, ist unverkennbar. Freud lässt mal mehr, mal weniger unverhohlen grüßen. Man hört den Alten aus Wien förmlich raunen: »Wir streben mehr danach, Schmerz zu vermeiden als Freude zu gewinnen.« Kaszinski ist so ein Vermeider, seine Angst ein schlechter Ratgeber. Bloß nicht zu viel investieren – weder Geld noch Gefühle. Bloß nicht zu viel von sich und seinen Gedanken preisgeben. Nicht mal sich selbst. Solch ein Mensch ist nicht von feiner Natur. Er bevorzugt Sex mit fügsamen Geliebten oder verunsicherten Huren, blickt voller Verachtung auf seine Patienten, bricht mit dem einzigen Freund, als der ihm ins Gesicht sagt, nicht lieben zu können, und kann seiner Freundin nicht sagen, was er für sie empfindet. Dabei dominiert der Egozentriker mit seinen Befindlichkeiten. In seinen Beziehungen lässt er es auf Machtkämpfe ankommen, bei denen letztendlich keiner gewinnt. Erkennen wird er das in seiner Selbstanalyse nicht. Zu schmerzhaft wäre diese Einsicht. Die Verdrängungs- und Vermeidungsmechanismen sind gut geölt. Promiskuität statt Hingabe, immer riskantere sexuelle Abenteuer statt Verschmelzung, Rituale statt Nähe.

Die den Therapeutenkopf immer schneller durchströmenden Bilder und Sequenzen, geschickt verwoben zu einem einzigen dahingleitenden Satzgeflecht von immer wiederkehrenden Beschwörungsformeln, Namen und Orten des Nicht-Geschehens, vermitteln das Psychogramm eines Menschen wie er nicht sein sollte und wie es ihn wohl doch zuhauf gibt: distanziert, emotionslos, kontrolliert; und dessen Selbstbetrachtungen und Blicke in die Vergangenheit »nur angedeutete Erinnerungen sind, Erinnerungen wie angetäuschte Bewegungen eines Boxers oder Fußballspielers, der im letzten Moment verzögert«. Das führt zwar nicht in die Tiefe, aber dafür ins blanke Entsetzen darob, dass keiner davor gefeit ist, »Lichtjahre entfernt« von sich selbst zu sein.

Rainer Merkel: Lichtjahre entfernt. S. Fischer Verlag. 204 S., geb., 18,95 €.

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