Zwei Leben?

Kathrin Schmidt: »Du stirbst nicht«

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 3 Min.

Der aberwitzige Traum vom zweiten Leben verlässt uns nicht. Er ist unser heimlichster, gegen alle Erfahrung gehüteter Beweis, dass es Größeres gibt als die Wahrheit. Der Traum geistert herum im Reich der verfehlten Zwecke, das unser erstes Leben ausfüllt. Wir nennen es nicht so, dieses Reich, wir nennen es Sinn, sagen aber nicht, dass er sich abschleift; oder Gewohnheit, sagen aber nicht, wie sie uns auffrisst; oder Liebe, sagen aber nicht, dass uns das Begehren abhanden kam. Die »lust bei fuß«, wie es in Kathrin Schmidts Gedichtband »Ein Engel fliegt durch die Tapetenfabrik« heißt, 1987 erschienen. So stehen wir es durch, dies ganze lange, befristete erste Leben, diese Tapetenfabrik für unsere dünnen vier Wände.

Helene Wesendahl erwacht aus diesem Leben, aber da ist keines, kein erstes und kein zweites, nach dem Koma scheint gar kein Leben mehr in ihr, bei ihr zu sein – wenn man darunter mehr verstünde als den mühevollen Aufschlag zweier Augen. Alles verschüttet – der Weg der Sprache nach draußen, die Erinnerungen. Das ist jetzt der Roman: Angst, gereizte Abwehr, tiefste Erschöpfung mitten in den Wiedererstehungsversuchen, alles ein Danebengehen, ein Zittern, die bleiche Welt der Sorge, und doch: ein leicht wieder pochendes Bewusstsein, ein Gedankenraunen, das an Widerstand erinnert ...

»Ich sterbe«, hatte Helene gesagt. »Du stirbst nicht«, hatte ihr Mann geantwortet, als die Hirnblutung geschah – die eine Wahrnehmung auslöste, als hätte der 44-jährigen Schriftstellerin jemand aus mählicher Entfernung einen Schnipsgummi an den Kopf geschossen. Das packende, tiefgehende Buch stationiert, Stück für Stück, Helenes Welt: die Mitpatienten, das sehr unterschiedlich zugängliche Krankenhauspersonal, die familiären Besucherinvasionen, Mann, fünf Kinder, Schwester. Die Gedanken einer sprachlos Gewordenen über den Schriftstellerberuf und die Reflexionen über eine Ehekrise – mit Auswegsuche bei einer Frau.

Der Autorin unterläuft keine Larmoyanz, sie fällt nicht ins Herzrasen der eigenen Befangenheit, denn sie erlitt vor Jahren selbst jenes Schicksal eines geplatzten Hirn-Aneurysmas. Schmidt, geboren 1958 im thüringischen Gotha, hat nicht schlechthin ein Buch über das Erwachen eines todkranken Menschen geschrieben, sie gibt lakonisch, berührend intensiv, mit schneidend leichter Ironie sogar, Bericht aus dem Niemandsland unserer wahren Verfassung. Wo Todes- und Lebensstreifen ihre Wüstungen gegeneinander wachsen lassen. Wo nichts entschieden ist, was wir auch tun. Wo sich die Erwartungen im Laufschritt entfernen. Wo wir den Schatten nachschauen, die in Vergangenheiten davonlaufen, die es nie gab, oder in Künftiges, das nicht sein kann, obwohl es bevorsteht – das wir nicht wollen, weil es bevorsteht. Als wüssten wir von dem, was uns blüht, mehr als von dem, was unter unseren Zugriffen verwelkte ...

Drei aufstrebende, zähe, grüne Stränge des weißen Schutzumschlages ziehen mich noch einmal zum erwähnten Gedichtband aus dem Verlag Neues Leben. Ein kleines, zerbrechliches Fahrradschlüsselchen ziert dort das Cover. Aquatinradierungen von Manfred Butzmann begleiten die Gedichte. Es sind düstere städtische Blicke. Da steht: »wir sprechen kaum, stimmts?, wenn wir/ schreibtische baun, die erinnerungen zu verändern/ wie eine welt/ in der noch alles drin wär«. Oder: »träg, wie ermüdete schwimmer,/ greifen die herbste einander an den novembern. Hinter der schläfe/ weiden noch herden durchbluteter jahre/ die keiner mir austreibt«.

Wie anders, genauer, seherischer erscheint das Frühe, wenn man es von einem Ende her liest, dem der Mensch entrann. Jedenfalls in einer Vorläufigkeit, die auf neue Art wach macht. Es gibt kein zweites Leben. Aber der Schriftstellerin Wesendahl kehrt das erste Leben zurück, wie etwas, das nicht war, jedenfalls nicht so, wie es vielleicht hätte sein sollen, wollen, können. Erstaunlich, wie viel frische Atemluft das freisetzen kann.

Kathrin Schmidt: Du stirbst nicht. Roman. Kiepenheuer & Witsch. 352 S., geb., 19,95 €.

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