Mitnichten ein reines Verteilungsproblem

  • Klaus Bittmann
  • Lesedauer: 5 Min.

Schon seit Jahren zeichnet sich ab, dass Deutschland ein eklatanter Ärztemangel droht. Dies zeigt sich nicht nur an der steigenden Zahl offener Stellen, die jede Woche im »Deutschen Ärzteblatt« inseriert werden. Einige Städte und Gemeinden stehen schon heute ohne Arzt da. Kliniken können vakante Stellen nicht mehr besetzen. Niedergelassene Ärzte finden keine Nachfolger für ihre Praxen. Dies alles ist bereits Realität und mitnichten ein reines Verteilungsproblem, wie Politiker und Krankenkassen gerne behaupten. Längst betrifft es nicht mehr nur die strukturschwachen Regionen Ostdeutschlands, sondern zunehmend auch ländliche Gebiete in den alten Bundesländern und Großstadtbezirke mit schwacher Sozialstruktur.

Auf den ersten Blick erscheint diese Entwicklung nicht logisch, nimmt die Zahl der Ärzte doch seit Jahren kontinuierlich zu. Gab es 1998 noch rund 287 000 berufstätige Ärzte, lag deren Zahl 2008 schon bei mehr als 319 000. Die aktuellen Daten der Bundesärztekammer zur Altersstruktur und Arztzahlentwicklung zeigen jedoch, dass wir trotzdem vor enormen Herausforderungen stehen: Die Überalterung der Ärzteschaft schreitet mit großen Schritten voran und betrifft die ambulante Versorgung in besonderem Maße. Bundesweit stieg das Durchschnittsalter der Vertragsärzte von 46,6 Jahren im Jahr 1993 auf 51,35 Jahre in 2008. Waren 1993 rund 8,8 Prozent aller Vertragsärzte 60 Jahre und älter, lag deren Zahl 2007 schon bei 17,5 Prozent.

Hausärzte sind mit 19,6 Prozent stärker betroffen als Fachärzte mit 15,6 Prozent. In Ostdeutschland schreitet die Überalterung noch schneller voran. Bereits 2002 waren bundesweit 15,6 Prozent der Hausärzte 60 Jahre oder älter. Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern lagen schon damals mit jeweils 27,9 Prozent deutlich über dem Mittelwert. Parallel zur Alterung der Ärzteschaft vollzieht sich auch in der Gesellschaft ein demografischer Wandel. Inzwischen ist ein Viertel der Deutschen 60 Jahre oder älter – Tendenz steigend.

Die zunehmende Lebenserwartung ist außerordentlich erfreulich und in hohem Maße dem medizinischen Fortschritt geschuldet. Dabei darf man jedoch nicht verkennen, dass ältere Menschen häufig multimorbid sind, also an mehreren Krankheiten gleichzeitig leiden und einer besonders intensiven Behandlung bedürfen. Analog erhöhen die Errungenschaften der modernen Medizin ständig die Nachfrage nach Spezialisten. Beides, Multimorbidität und medizinischer Fortschritt, fordern in einer Gesellschaft des langen Lebens einen hohen Personaleinsatz und binden so die Arbeitskraft der Ärzte.

Manche Wahrheiten sind unangenehm, doch hinsichtlich des Nachwuchsmangels muss sich die Ärzteschaft auch an die eigene Nase fassen, denn gerade im stationären Bereich ist er hausgemacht. Schlechte Arbeitsbedingungen, überlange Arbeitszeiten, hierarchische Strukturen und eine – gerade in den Anfangsjahren – geringe Bezahlung schrecken leider (zu) viele junge Mediziner von der Arbeit im Krankenhaus ab.

Doch auch die Niederlassung in eigener Praxis verliert zunehmend an Attraktivität. Hohe Investitionskosten stehen nicht kalkulierbaren Einnahmen gegenüber. Anders als Jungunternehmern in anderen Zweigen sind Praxisgründern die Hände wirtschaftlich stark gebunden. Niedergelassene Vertragsärzte werden zudem durch bürokratische Anforderungen in ihrer eigentlichen Arbeit, der Patientenversorgung, gestört und sind einer zunehmenden Gängelung durch Politik und Krankenkassen ausgesetzt. Die Folge: Rund 20 Prozent der Medizinstudenten brechen ihr Studium ab. Weitere 15 Prozent werden nach Abschluss ihres Studiums nicht in der kurativen Medizin tätig, sondern suchen ihr Glück in anderen Berufszweigen oder im Ausland. Im Jahr 2008 verließen mehr als 3000 Ärzte Deutschland, im Vorjahr waren es noch gut 2400.

Die Zusammensetzung der Ärzteschaft verschiebt sich schon seit Jahren zugunsten der Ärztinnen. Mittlerweile beträgt der Anteil der Frauen an der Gesamtärzteschaft 41,5 Prozent. Die Feminisierung tut der Medizin sicherlich gut, denn Ärztinnen haben oftmals einen anderen Blick auf die Dinge und gehen sie anders an. Viele junge Frauen – und zunehmend auch junge Männer – sind aber nicht mehr bereit, dem Arztberuf alles andere unterzuordnen. Sie räumen dem Familien- und Privatleben mehr Raum ein, arbeiten vermehrt in Teilzeit, lassen sich seltener in eigener Praxis nieder und stellen in ihrem Berufsleben somit weniger Arbeitszeit zur Verfügung.

Wir können und wollen die Uhr nicht zurückdrehen, sondern müssen uns darauf einstellen, dass künftig mehr Ärztinnen und Ärzte nötig sein werden, um dasselbe Arbeitsvolumen zu leisten. Einer Statistik der Bundesärztekammer zufolge arbeiteten Ärzte 1991 noch 41,1 und Ärztinnen 32,1 Stunden pro Woche. 2007 war die Zahl der Wochenarbeitsstunden bereits auf 37,2 bzw. 27,4 abgesunken.

Seit der Novellierung der deutschen und europäischen Arbeitszeitgesetzgebung benötigen auch die Krankenhäuser mehr ärztliches Personal, um ihren Bedarf zu decken. Anders als die Krankenhausträger begrüßen wir Ärzte das gesetzlich fixierte Ende der Marathondienste, denn es hat die Rahmenbedingungen für Krankenhausärzte deutlich verbessert und die Patientensicherheit erhöht. Auch hier gilt: Ein Schritt zurück ist keine Lösung. Vielmehr sind die Kliniken gehalten, dem Nachwuchs die kurative Medizin wieder schmackhaft zu machen – durch attraktive Arbeitsbedingungen und -zeiten, flache Hierarchien und eine angemessene Bezahlung.

Und auch die Politik kann einen Beitrag dazu leisten, dass Arztsein in Klinik und Praxis wieder attraktiv wird. Statt auf jede Medienkampagne gegen »die Ärzte« aufzuspringen und einen ganzen Berufsstand in Misskredit zu bringen, sollte sie die ärztliche Tätigkeit wertschätzen, die Freiberuflichkeit achten und den Ärzten nicht immer mehr bürokratische und administrative Aufgaben aufbürden. All dies ist nötig, um Wartelisten und einen Versorgungsmangel in der Fläche abzuwenden.

Dr. Klaus Bittmann, Jahrgang 1943, ist seit 2006 Bundesvorsitzender des NAV-Virchow-Bundes, Verband der niedergelassenen Ärzte Deutschlands. Der Facharzt für Frauenheilkunde und Geburtshilfe war bis 2004 in einer eigenen Praxis in Plön tätig. Von 1998 bis 2006 stand Klaus Bittmann als 1. Vorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein vor.

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