»Ich nenne das Eliminatorismus«

Daniel Goldhagen über seine umstrittenen Thesen zur Genozid-Bekämpfung

  • Lesedauer: 4 Min.
Heute bringt Daniel Goldhagen, der mit seinem Buch »Hitlers willige Vollstrecker« für Aufsehen sorgte, sein neues Werk heraus. In »Schlimmer als Krieg« beschäftigt er sich mit all den anderen Genoziden. Gestern zeigte die ARD bereits in einer Dokumentation, wie der US-Politologe zu seinen Erkenntnissen kam. JAN FREITAG sprach für ND mit dem Politikwissenschaftler.

ND: Mr. Goldhagen, was fasziniert Sie so an den Abgründen der menschlichen Natur?
Goldhagen: Gemessen an den Opferzahlen von über 100 Millionen Toten ist Völkermord die weit größere Geißel als Krieg. Dennoch wendet die Staatengemeinschaft die meiste Energie dafür auf, Todesraten auf den Straßen zu Hause zu verringern, statt sie auf das millionenfache Abschlachten weltweit zu konzentrieren. Dieses Missverhältnis versuche ich durch meine Arbeit aufzulösen.Das hat übrigens nichts mit Faszination zu tun, es ist eine Pflicht.

Ist das nicht erschöpfend?
Als Sozialwissenschaftler arbeite ich so sachlich wie möglich, suche nach Belegen meiner Thesen und leite daraus effektive Politik ab. Aber es gibt natürlich Momente, in denen diese Unvoreingenommenheit schwer fällt. Wenn von den Gräueln in meinem Buch Kinder betroffen sind, gerät meine Distanz zum Forschungsobjekt schon mal ins Wanken.

Diesmal führt mich die filmische Umsetzung im Anschluss an Orte entsetzlicher Taten, wo ich mit Opfern und Tätern spreche, an Exhumierungen teilnehme, umringt von Hinterbliebenen. Diese Begegnungen von Angesicht zu Angesicht sind furchtbar. Davon unbeeindruckt zu bleiben, ist fast unmöglich.

So wie von jenem Moment, als Sie mit Ihrem Vater den Ort in der Ukraine besuchen, wo er der Shoa als Zehnjähriger nur knapp entkam. Waren Sie dort noch Wissenschafter?
Zunächst ja. Aber als ich mit meinem Vater auf dem Massengrab von Kossiv stand, wo rund 2000 Juden verscharrt wurden, verschwand alle Distanz hinter der unmittelbaren Nähe, genau dort zu stehen, wo viele Verwandte von mir ruhen.

Wo liegen die Unterschiede im Massenmord der Vor- und Nachkriegszeit?
Vor 1945 war Völkermord grenzüberschreitend. Danach wurde er überwiegend zur inneren Angelegenheit souveräner Staaten, deren Souveränität von der Weltgemeinschaft vehement verteidigt wird. Sie sorgt für Straffreiheit derer, die ihre eigene Bevölkerung schlachten. Deswegen müssen wir das Prinzip der Souveränität überarbeiten. Wenn Regierungen ihre Landsleute auslöschen, muss per Definitionem auch die Souveränität enden, dass wir also nicht nur intervenieren können, sondern müssen.

Aber die Weltgemeinschaft interveniert doch regelmäßig in internen Konflikten.
Wie konnte es dann zum Völkermord im Sudan kommen? 400 000 Menschen hingemetzelt, 2,5 Millionen vertrieben, und das von dem Regime, das zuvor im Süden noch mehr getötet und vertrieben hat. Laut UN-Charta müssten alle Staaten so reagieren, als würden die Kinder von Darfur bei uns vernichtet.

Sind militärische Interventionen nicht ebenfalls heikel?
In Bosnien hat man gesehen, was die Bombardierung einiger Schlüsselziele in drei Wochen gebracht hat, nachdem man drei Jahre untätig verstreichen ließ. Dabei war auch an diesem Völkermord nichts spontan. Kein Genozid ist nur Ergebnis ethnischer Konflikte, die außer Kontrolle geraten.

Sondern?
Er ist stets Politik, vollzogen von ihren Führern, die sich unliebsamer Bevölkerungsgruppen entledigen. Das nenne ich Eliminatorismus. Er bleibt ein Faktor nationaler Machtpolitik, solange internationale Kräfte nicht dagegen vorgehen.

Um die Kosten eliminatorischer Kosten-Nutzen-Rechnungen hoch zu treiben, muss ein Präventionssystem wirksamer Abschreckung geschaffen werden. Die gibt es fast umsonst. Man muss Täter wissen lassen, dass sie am Ende verlieren, weil Verfolgung und Anklage ihrer Taten zum institutionellen Standard werden, nicht zur Aushandlungssache. Alle zivilisierten Nationen lehnen jede Art von Genozid strikt ab, doch es gibt ihn fast überall auf der Welt, ohne dass einer dieser Staaten dagegen konsequent einträte. Welch ein Zynismus!

Lieben Sie Ihre Arbeit trotzdem?
Als Politologe erledige ich sie, weil es nötig ist. Meine Arbeit begann mit dem Holocaust, hat sich nun auf alle Genozide ausgeweitet, aber so sehr sie mir am Herzen liegt, macht es mich nicht glücklich, sie zu erledigen. Deshalb bin ich sehr darauf bedacht, Arbeit als Arbeit zu verstehen.

Würden wir ein Glas Wein trinken, käme sie nicht zur Sprache.
Sie können Monate meiner Freizeit mit mir verbringen, ohne auf meine Arbeit zu sprechen zu kommen. Mein Leben und meine Arbeit sind absolut unterschiedliche Dinge. Da können Sie meine Familie, meine Freunde, meine Kollegen fragen. Ob Sie es glauben oder nicht: Den Großteil meiner Zeit verbringe ich mit amerikanischer oder internationaler Politik, mit Kultur, Architektur, mit Dingen also, mit denen sich zu beschäftigen eine viel fröhlichere Angelegenheit ist.

In der Öffentlichkeit gelten Sie als fokussiert auf dieses eine Thema: Völkermord.
Das ist nur zu verständlich. Und genau deshalb sagen auch viele Menschen, die mich das erste Mal treffen, Sie hätten mich missmutig und trübsinnig erwartet. Tatsächlich bin ich das genaue Gegenteil, und zum Glück mache ich live auch eher diesen Eindruck.

Das klingt, als glauben Sie weiter an das Gute im Menschen?
Absolut.

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