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»The Secret Agent« im Kino: Ein Opfer unter vielen

Der zweifache Cannes-Gewinner »The Secret Agent« zeigt Frag­mente der Militär­diktatur in Brasilien

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 6 Min.
Es liegt etwas Ungutes in der Luft: Marcelo (Wagner Moura) kehrt in seine Heimatstadt Recife zurück.
Es liegt etwas Ungutes in der Luft: Marcelo (Wagner Moura) kehrt in seine Heimatstadt Recife zurück.

Irgendwo auf der Landstraße zwischen São Paulo und der Küstenstadt Recife. Ein VW Käfer hält an einer menschenleeren Tankstelle, ein Mann steigt aus – und schreckt zurück. Direkt vor ihm liegt, mit einem Stück Pappe notdürftig zugedeckt, eine Leiche. Der Geruch von Verwesung nimmt ihm den Atem. Der Tankstellenwart eilt herbei, erklärt, das sei ein Räuber gewesen, der vor zwei Tagen vom Nachtwächter erschossen wurde. Er solle sich nicht darum kümmern, man warte noch auf die Polizei. Seit zwei Tagen schon? In dem Moment hört man auch schon die Sirene eines Polizeiwagens. Na endlich!

Doch die Leiche interessiert die Polizisten gar nicht. Sie kontrollieren den Käfer, und das überaus gründlich. Ist der Feuerlöscher nicht zu alt und das Profil des Ersatzreifens auch nicht abgefahren? Sie finden nichts – und dann kommt der Beamte zur eigentlichen Sache: Wie wäre es mit einer Spende für den Karnevalsfonds der Polizei? Wir sind im Brasilien des Jahres 1977. Noch herrscht hier die Militärdiktatur, aber ihre Macht bröckelt. Der Mann kauft sich bei den korrupten Polizisten mit einer Schachtel Zigaretten frei, mehr hat er nicht dabei. Er darf weiterfahren.

Es liegt etwas Ungutes in der Luft – nicht nur die Leiche vor der Tankstelle verwest, sondern das ganze Land befindet sich im Zustand der Fäulnis. Daran ändert auch der Karneval nichts, in den sich die Menschen blindwütig stürzen, bis sie regelrecht betäubt sind. In Recife meldet die Zeitung bereits 91 Morde während des Karnevals in der Stadt, und es werden noch mehr. Man bringt sie ins Leichenschauhaus, ermittelt wird in der Regel nicht.

Der Mann im VW Käfer kommt aus São Paulo, heißt Marcelo, ist Mitte 40 und war einst ein führender Wissenschaftler im Bereich besonderer technischer Entwicklungen. Doch er geriet in Konfrontation mit einem Angehörigen der Junta, der sich – selbst ein Unternehmer – die Forschungsergebnisse aneignete und Zeugen brutal beseitigte. Marcelo (Wagner Moura) muss fliehen und kehrt unter falschem Namen in seine Heimatstadt Recife zurück. Er will seinen kleinen Sohn, der bei den Großeltern lebt, zu sich nehmen und dann das Land verlassen. Doch wird er bereits verfolgt.

»The Secret Agent« ist alles andere als ein geradlinig durcherzählter Thriller. Zweieinhalb Stunden nimmt sich Regisseur Kleber Mendonça Filho Zeit, in die eigenen Kindheitserinnerungen an Recife einzutauchen. Über diese Stadt, in der er aufwuchs, hatte er bereits 2023 den Dokumentarfilm »Retratos Fantasmas« gedreht, der mehr war als eine bloße Vorarbeit. Es war die Einübung in eine bestimmte indirekte Erzählweise. Denn wie sonst soll man die mäandernde Zeit erfassen? Dieses Jahr beim Filmfestival in Cannes uraufgeführt, erhielt »The Secret Agent« den Regie- und Wagner Moura den Darstellerpreis.

Langsam, Bild für Bild, Szene für Szene, tauchen wir ein in eine Geschichte ohne feste Kontur. Es ist die Zeit der weichen Uhren, die Dalí einst malte. Eine Zeit, die aus den Fugen ist, und zwar gründlich. Die Kamera von Evgenia Alexandrova zeigt uns den bunten Karneval Brasiliens so ausgekühlt-künstlich, als wäre dies ein Werk des Finnen Aki Kaurismäki. Der Film hat den Gestus einer sachlich-distanzierten Ermittlung mit unerwartet irrationalen Rissen und Leerstellen im Protokoll.

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Marcelo heißt in Wirklichkeit nicht so, aber er macht daraus keinen Hehl, denn er ist ein Wissenschaftler auf der Flucht und kein Agent. Zurück in Recife, erkennt er vieles nicht wieder. Die Erinnerungen lassen sich mit der ebenso grausamen wie degenerierten Gegenwart, die er hier vor Augen hat, nicht zusammenbringen. In den Kinos der Stadt läuft gerade »Der weiße Hai«. Marcellos kleiner Sohn will den Film unbedingt sehen, aber der ist für Kinder verboten. Doch der Großvater ist Filmvorführer, er wird ihn eines Tages heimlich mit ins Kino nehmen.

Und während die Menschen auch in Recife abgestumpft sind und die alltägliche Brutalität samt Mord, Korruption und Denunziation um sich herum gar nicht mehr wahrzunehmen scheinen, erregt sie etwas anderes: der Fund eines Beines im Magen eines toten Hais! Wem gehört dieses Bein? Und dann beginnt dieses Bein auch noch ein Eigenleben zu führen – es entkommt aus dem Leichenschauhaus und tritt und schlägt die lethargischen Menschen der Stadt, die den Verfall von Moral und Ordnung bloß stumm über sich ergehen lassen.

Ein unerwarteter surrealer Ausbruch, der diesen Film zu einer Art kaltem Rausch macht, ein Trip, aber keiner, der den Geist vernebelt, sondern vielmehr Symbole erschafft, um den Nebel aus den Köpfen der Beteiligten zu vertreiben. Marcelo befindet sich hier in der Gesellschaft geheimer Widerständler gegen die Militärjunta. Man dokumentiert auf Tonkassetten seine Berichte über die erlebten Übergriffe. Auch seine Frau fiel diesen schon zum Opfer.

Es ist die Zeit der weichen Uhren, die Dalí einst malte.

Fast 50 Jahre später – nächste Zeitebene, die erst nach und nach kenntlich wird – sehen wir eine junge Studentin diese Kassetten abhören und in alten Zeitungen recherchieren. Wie nebenbei bemerken wir unter den Dokumenten auch ein Foto des erschossenen Marcelo. Also entkam er doch nicht den bestellten Mördern. Ein Opfer unter vielen – aber es soll eines mit seiner eigenen Geschichte sein.

Dabei bleiben lauter Fragmente: Das ganze Bild erscheint nie, immer nur Ausschnitte. Aber darum geht es nicht so sehr. Wichtiger ist die herrschende Atmosphäre von Nervosität und Stumpfsinn, Angst und Gleichgültigkeit. Es sind die Gespenster dieser Zeit, die die Beteiligten lebenslang verfolgen.

Die Studentin von heute sucht Marcelos kleinen Sohn von damals. Sie findet einen Arzt in mittleren Jahren, der sich an seinen Vater kaum erinnern kann. Den Stick mit dem gefundenen Material will er anfangs nicht annehmen, dann doch. Und so beginnt die Geschichte auf mythische Weise zu kreisen. Andere Gespenster erzeugen andere Ängste, die ebenso unfrei machen. Doch ohne jene, die Zeugnis ablegen, sich erinnern an das, was ihnen geschah, Gutes wie Schlechtes, bräuchten wir an ein Morgen gar nicht erst zu denken.

Wenn man dabei politische Gewalt mit surrealen Mitteln bloßzustellen vermag, wie hier anhand der massenhaften Angstneurosen, die etwa »Der weiße Hai« auslöste, dann ist dies durchaus ein Mittel der Aufklärung. Nachdem Marcelos kleiner Sohn den Film, den er nicht sehen sollte, aber unbedingt sehen wollte, tatsächlich gesehen hat, waren seine Ängste zwar nicht fort, aber sie waren auf ein Normalmaß geschrumpft. Die Angststarre war weg.

»The Secret Agent«, Brasilien/Frankreich/Niederlande/Deutschland 2025. Regie und Buch: Kleber Mendonça Filho. Mit: Wagner Moura, Maria Fernanda Cândido, Gabriel Leone, Udo Kier, Alice Carvalho, Hermila Guedes. 158 Min. Kinostart: 6. November.

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