Erinnerung an den Vater des neuen jungen W.

Ulrich Plenzdorf wäre heute 75 Jahre alt geworden

  • Thomas Bickelhaupt, epd
  • Lesedauer: 3 Min.
Theaterprobe zu »Den neuen Leiden des jungen W.«
Theaterprobe zu »Den neuen Leiden des jungen W.«

Selten haben Todesanzeigen so nachhaltig für Aufsehen gesorgt wie die Nachrufe von 1972 auf einen 19-Jährigen aus Berlin. Die knappen Texte galten einem Lehrling, der beim Experimentieren mit einem selbst gebauten Automaten durch Stromschlag ums Leben kam. Der Jugendliche hieß Edgar Wibeau und war stolz auf das hugenottische Blut in seinen Adern. Heute jährt sich der Geburtstag seines literarischen »Vaters«, des vor zwei Jahren verstorbenen Ost-Berliner Schriftstellers Ulrich Plenzdorf, zum 75. Mal.

Mit dem Theaterstück »Die neuen Leiden des jungen W.« über einen Aussteiger aus dem genormten DDR-Alltag war der Schriftsteller für die ostdeutschen Jugendlichen zum halb subversiven Kultautor geworden. In Westdeutschland wurde die Geschichte, die ursprünglich ein DEFA-Film werden sollte, zu einem Renner im Deutschunterricht. Im Osten lockten die »neuen Leiden« nach der Uraufführung in Halle Besucher ins Theater, die sonst eher nicht zum Stammpublikum gehörten.

Edgars salopper Jargon war auf ostdeutschen Bühnen ebenso Neuland wie Plenzdorfs Blick auf den Titelhelden. Er fühlt sich von seiner Umwelt massiv verkannt – als Künstler wie als Mensch. In Johann Wolfgang Goethes »Leiden des jungen Werthers« findet er passende Zitate für seine glücklose Situation. Auf die offiziell verpönten Jeans rappt er eine leidenschaftliche Hymne und schwärmt vom »Fänger im Roggen« des US-Amerikaners Jerome D. Salinger, der im Westen längst zu einem der Propheten für die Woodstock-Generation geworden war.

Zugleich steht für Wibeau fest: »Kein einigermaßen intelligenter Mensch kann heute mehr was gegen den Kommunismus haben.« Mit einer solch widersprüchlichen Figur traf der damalige Enddreißiger Plenzdorf den Nerv zahlloser DDR-Jugendlicher in der Ära Honecker. Sie erlebten, je größer sie wurden, ihre Umgebung als kleinkarierte und spießige Gesellschaft, die alte Sekundärtugenden propagierte und sich gegen den Rest der Welt abschottete.

Gleichzeitig sahen sie im ostdeutschen Alltag die deutlichen Defizite zu den offiziellen Verheißungen einer lichten Zukunft, mit denen die Nachkriegsgeneration von der Schule an groß geworden war. Die offizielle Kritik warnte damals denn auch, es wäre »töricht«, die »zugespitzt subjektive Erzählmethode« Plenzdorfs zu einer »Wendemarke unserer Literaturentwicklung hochzujubeln«.

Wie groß der Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit in der DDR war, hatte das SED-Mitglied Plenzdorf mehrfach erfahren. Nach dem Mauerbau 1961 sah er wie zahlreiche andere Ost-Kollegen in der Abschottung vom Westen durchaus eine Chance zur Liberalisierung im eigenen Land. Doch mit mehr künstlerischer Freiheit war es nach Erich Honeckers Brandrede auf dem 11. Plenum des SED-Zentralkomitees im Dezember 1965 erst einmal für Jahre vorbei.

1973 wurde zwar Plenzdorfs »Legende von Paul und Paula« wieder ein Publikumshit. Doch in der künstlerischen Bilanz des Autors bis zum Ende der DDR stehen neben großen Erfolgen zahlreiche kleinliche Verbote von Filmen und Uraufführungen. Dazu gehört auch das Porträt der ehrgeizigen jungen Lehrerin Karla mit Jutta Hoffmann in der Titelrolle, seines ersten eigenständigen Films von 1965, der erst 1990 in die Kinos kam.

Plenzdorfs Protest in der Biermann-Affäre löste 1977 bei der Staatssicherheit den »Operativen Vorgang Dramatiker« aus. Zum Schriftstellerkongress ein Jahr später wurde er, ähnlich wie andere kritische Autoren, gar nicht mehr eingeladen. Gleichwohl blieb der einstige Student des Marxismus-Leninismus und Absolvent der Babelsberger Filmhochschule seinem Metier treu und weiterhin produktiv.

Die Jahre seit 1990 erlebte Plenzdorf als eine Zeit, in der jeder Filmemacher zwar nicht mehr der Zensur, aber »der nackten materiellen Gewalt gegenübersteht«. Gleichwohl blieb er als Autor etwa für die erfolgreiche TV-Serie »Liebling Kreuzberg«, für den Dreiteiler »Der Laden« nach Erwin Strittmatter oder »Der Trinker« nach Hans Fallada gut im Geschäft. Nach der Politrevue »Revolte, Reform, Rewü« von 1995 veröffentlichte er seine deutsch-deutschen Beobachtungen unter dem vieldeutigen Titel »Ich sehn mich so nach Unterdrückung«. Vor zwei Jahren, am 9. August 2007, ist er nach langer schwerer Krankheit in einem Krankenhaus bei Berlin gestorben.

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