Des Lebens güldner Baum

Guillermo Martínez führt Kopfmenschen auf Abwege

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 4 Min.

Faust-Drama in Puente Viejo, einem argentinischen Küstenort: Mit dem Schachwettkampf zweier Schüler beginnt es und endet mit dem Tod des Siegers. »Roderers Eröffnung« wird von dem namenlosen Ich-Erzähler zunächst als »Aljechin-Taktik« identifiziert, bald ahnt er freilich, dass der andere Junge gar keine Schachzeitschriften liest, sondern alles selbst entwickelt. »Seine Züge wirkten planlos, konfus«, doch »die Ahnung ließ mich nicht los, daß sich dort subtil und unausweichlich etwas anbahnte, das es mir nicht zu greifen gelang.« Dann Zug um Zug das Demütigende der Niederlage, die ihn an Gustavo Roderer bindet, lebenslang.

Roderer: ein In-Sich-Gekehrter, an den niemand heranreicht, für den die Mädchen schwärmen, der sich aber nicht für sie interessiert. Auch nicht für die Schule. Während des Unterrichts liest er in mitgebrachten Büchern. »Herr Roderer, wollen Sie uns etwa bis zum Ende des Jahres grausam ignorieren?«, fragt ihn die bezaubernde Literatur-Lehrerin. »Die Zeit«, stieß Roderer verwirrt hervor. »Ich habe keine Zeit.«

Das trifft. Es ist Sonntag, draußen scheint die Sonne, und ich sitze vor dem Bildschirm. Da will ich dich mal nicht länger stören, sagte meine Schwester und legte den Hörer auf. Muss ich diesen Text denn jetzt schreiben? Wiegt das Versäumte irgendwann schwerer als das, was einem gelingt?

»Grau, teurer Freund, ist alle Theorie, und grün des Lebens güldner Baum«, zitiert der Anatomie-Lehrer (früher ein ganz besonders begabter Arzt, am Schluss wird er eine tödliche Dosis Morphium applizieren) aus der Weimarer Ausgabe von Goethes »Faust«, die auf Roderers Pult neben Baudelaires »Blumen des Bösen« liegt. Roderer selbst spricht später gar von einem »Pakt«, von Gott und Teufel, als der Ich-Erzähler ihn besucht. Ganz außergewöhnliche Studien würde er betreiben, über alles Bekannte hinausgehen. Es sei ihm dafür eine Frist gesetzt ... Genie? Wahnsinn? Oder vielleicht doch schon das Wissen um eine tödliche Krankheit? Aber der Autor stellt ja nicht Roderer vor uns hin, sondern dessen Abbild in den Augen des Ich-Erzählers, der seit jenem Schachspiel ungeheure Hochachtung vor ihm hat und immer noch weiter gegen ihn kämpft. Wie Salieri gegen Mozart, was auch eine unbewiesene Hypothese ist, die – von Alexander Puschkin bis Peter Shaffer – lediglich künstlerisch überzeugend in Szene gesetzt wurde.

»Doch stellt man eine Hypothese über die reale Welt an, bringt man unwillkürlich und irreversibel ein aktives Element in sie ein, das stets seine Folgen haben wird.« So heißt es in »Die Pythagoras-Morde«, dem Roman von 2003, der Guillermo Martínez weltberühmt gemacht hat und der – wichtig zu wissen – elf Jahre nach »Roderers Eröffnung« erschien. Die Reihenfolge der deutschen Übersetzungen ist umgekehrt. »Die Pythagoras-Morde« lesend, wusste man also nichts von der Vorgeschichte des Mathematikabsolventen aus Argentinien, der eben jener Ich-Erzähler aus »Roderers Eröffnung« ist. Vor seiner Abreise nach Oxford hatte er dem Rivalen das »Seldomsche Theorem« erklärt und ein Triumphgefühl dabei empfunden. Weil dieses Theorem die Unzulänglichkeit aller bekannten Denksysteme beweist, würde es der letzte Spatenstich sein, um die Philosophie zu begraben. In »Die Pythagoras-Morde« trifft er Arthur Seldom selbst und darf für das Mathematikgenie eine Art Dr. Watson sein.

Und so könnten sich auch zu anderen bisher deutsch nicht erschienenen Martínez-Romanen Verbindungen ergeben. Spannend, aber doch irgendwie konstruiert seien seine Bücher, monieren Rezensenten. Aber was denn sonst? Dieser Autor, 1962 geboren, hat in ganz jungen Jahren schon in Mathematik promoviert. Ein Frühvollendeter, der selbst erfahren hat, wie man auf geistigen Wegen stolpern kann. Damit setzte er sich in »Roderers Eröffnung« ausein-ander, und auch später ging es ihm immer wieder um erkenntnistheoretische Fragen. Die ihn persönlich zutiefst bewegen, sonst würde er darüber keine Romane schreiben. Vielleicht hat die Figur Roderers ein Pendant in der Wirklichkeit, aber durch »Faust« wurde sie wesentlich geprägt. Vielleicht ist sie auch ganz und gar erfunden, hat Martínez in den beiden Jungen die Abwege eigenen Ehrgeizes gestaltet, vor denen er sich hüten muss.

Guillermo Martínez: Roderers Eröffnung. Roman. Aus dem Spanischen von Angelica Ammar. Eichborn Berlin. 118 S., geb., 16,95 €.

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