Wegsperren nach der Haft wird zur Gewohnheit

Sicherungsverwahrung ist nicht auf Ausnahmen beschränkt, kritisiert der Strafverteidiger Sebastian Scharmer

  • Lesedauer: 5 Min.
Am Donnerstag wollen die Justizminister der Länder über weitere Verschärfungen der Sicherungsverwahrung beraten. Und die neue Bundesregierung hat in ihrem Koalitionsvertrag bereits angekündigt, »Schutzlücken« zu schließen.

ND: Herr Scharmer, Sie vertreten eine große Anzahl von Sicherungsverwahrten in mehreren Bundesländern. Was plant die Justizministerkonferenz?
Scharmer: Die Pläne sind noch nicht genau bekannt. Insbesondere die Länder fordern unter Verweis auf angebliche Schutzlücken seit Jahren, die Voraussetzungen für die Sicherungsverwahrung abzusenken. So könnte beispielsweise geändert werden, dass in Zukunft auch nach der Entlassung aus der Haft nachträglich Sicherungsverwahrung angeordnet werden könnte. Irgendwann sind wir so weit, dass jeder von der Straße weg verhaftet werden kann, nach dem Motto: Wir haben Anhaltspunkte für deine Gefährlichkeit.

Es gibt keine Schutzlücken?
Der Zweck der Sicherungsverwahrung ist neben der Besserung des Verwahrten der Schutz der Allgemeinheit vor gefährlichen Straftätern. Grundlage dieses Denkens ist, dass eigentlich jeder potenziell gefährliche Straftäter weggesperrt werden soll. Und wenn das nicht möglich ist, weil die gesetzlichen Voraussetzungen zu eng gefasst sind, wird gern von Schutzlücken geredet. Mit diesem Argument gab es in den letzten Jahren kontinuierliche Verschärfungen. So wurde die nachträgliche Sicherungsverwahrung erst für Heranwachsende eingeführt, dann hieß es, es gibt auch gefährliche Jugendliche. Nun können Jugendliche mit einer Haftstrafe über sieben Jahre nach Strafende in Sicherungsverwahrung genommen werden. Ohne neue Tatsachen vorlegen zu müssen, will man junge Menschen potenziell für immer wegsperren!

Es ist stets die Rede davon, dass Sicherungsverwahrung auf schwerste Fälle beschränkt bleibt.
Nein. Sie ist eben nicht die Ausnahme. Die Zahlen haben sich seit 1995 verdoppelt. Zudem wird immer propagiert, es gehe allein um schwerste Gewalttaten und Sexualverbrechen. Die meisten von mir betreuten Sicherungsverwahrten haben aber keine Gewaltdelikte, sondern Banküberfälle verübt, betrogen oder Haschisch verkauft. Die formellen Voraussetzungen für Sicherungsverwahrung erfüllt man mittlerweile recht schnell. Es reicht die erste Verurteilung zu mehr als drei Jahren Knast wegen zwei Taten. Laut der Strafverfolgungsstatistik von 2006 wurde sie zu 42 Prozent bei Vermögensdelikten und zu 58 Prozent bei Gewalt- und Sexualdelikten angeordnet.

Könnten Sie ein Beispiel aus Ihrer Verteidigerarbeit erzählen?
Ich habe einen 75-jährigen Mandanten. Vor seiner möglichen Entlassung ins Altersheim fordert das Gericht eine Probezeit mit Vollzugslockerungen, die wiederum von der JVA, selbst unter Begleitung, wegen vermeintlicher Fluchtgefahr verweigert werden. Diese leitet sie daraus ab, dass für meinen Mandanten das Ende der Unterbringung ja unabsehbar sei, was erheblich fluchtanreizend wirke. Das ist typisch im Umgang mit den Betroffenen. Sie bekommen auch kaum Therapien, obwohl das vom Bundesverfassungsgericht als Voraussetzung für die Verhältnismäßigkeit der Sicherungsverwahrung benannt wurde.

Die Gefährlichkeitsprognosen spielen keine Rolle für Sie?
Ich kann natürlich nicht sicher sagen, dass die falsch sind. Aber zum einen muss man zwischen den Delikten unterscheiden. Gefahren beispielsweise für Diebstähle oder Betrug muss man als Gesellschaft einfach hinnehmen können. Zum anderen geht es eben immer um ungewisse Prognosen. Mit dem Stigma »potenziell gefährlicher Straftäter« könnte man halb Berlin-Neukölln wegsperren. Ich bin generell dagegen, unbeschränkten Freiheitsentzug allein mit Gefährlichkeitsprognosen zu rechtfertigen. Das ist eine Abkehr vom Schuldsystem, wonach nur der bestraft wird, dem eine Schuld nachweisbar ist. Bei der Sicherungsverwahrung muss ein Mensch aber beweisen, dass er nicht (mehr) gefährlich ist.

Das heißt, Sicherungsverwahrte kommen nie mehr frei?
Das ist jedenfalls sehr schwierig. Denn niemand will die Verantwortung für eine Entlassung übernehmen. Der Druck ist groß. Zudem verdienen die von Gerichten beauftragten Sachverständigen damit gutes Geld, was im Zweifel auch zu eher negativen Gutachten führt.

Die Rechte Ihrer Mandanten zu verteidigen, ist Ihr Job. Was ist mit den Ansprüchen ehemaliger oder neuer Opfer?
Ich kann jeden Verletzten verstehen, der sagt, ich will, dass der Typ nie wieder rauskommt. Das ist menschlich verständlich, rechtspolitisch aber falsch. Man kann diese Tür eben nicht nur einen Spalt weit öffnen.

Sie sind für die ersatzlose Abschaffung?
Die meisten Sicherungsverwahrten sind Mehrfachtäter. Hätten sie früher mal tatsächlich die notwendige Hilfe bekommen, wäre es oft nicht so weit gekommen. Langzeitinhaftierung wirkt jedenfalls kontraproduktiv, da sind sich die Kriminologen einig.

Das deutsche Strafsystem mag sie erst dazu gemacht haben – aber gibt es keine »hoffnungslosen Fälle«?
Doch, es wird immer Unverbesserliche geben. Dennoch gibt es Alternativen zur Sicherungsverwahrung. Die Niederländer zum Beispiel entlassen die Leute früher, aber schauen danach auch mehr hin. Im Bereich der Sexualdelinquenz müssen Behandlungsangebote für potenzielle Täter ausgebaut werden, die greifen, bevor es zur Tat kommt. Sicherungsverwahrung gibt es jedenfalls in den wenigsten Ländern in Europa.

Fragen: Ines Wallrodt


Bei der Sicherungsverwahrung wird ein Straftäter über das Ende seiner Strafhaft hinaus, aufgrund entsprechender Anordnung im Urteil, in Haft gehalten, weil er als »Gefahr für die Allgemeinheit« gilt. Sicherungsverwahrung kann auch nachträglich auf Grund einer Prognose verhängt werden, wenn sich die »besondere Gefährlichkeit« erst während der Haft herausgestellt hat. Dies ist auch bei Ersttätern und Jugendlichen mittlerweile möglich. Laut Justizministerium befinden sich bundesweit etwa 400 Menschen in Sicherungsverwahrung. IW
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