Freitod auf den Bahngleisen

Lokführer stehen nach einem »Schienensuizid« oft unter Schock und brauchen psychologische Betreuung

  • Silvia Ottow
  • Lesedauer: 3 Min.

Laut Statistik wird jeder Lokführer einmal in seinem Berufsleben damit konfrontiert, während der Arbeit einen Menschen zu überfahren. Die Zahl der Schienensuizide wird mit ca. 800 bis 900 jährlich angegeben. Viele Lokführer werden nach diesem Schock psychisch krank. Seit einigen Jahren gibt es spezielle Hilfe.

Ralf Pasewald, heute bei der Ostdeutschen Eisenbahngesellschaft (ODEG) beschäftigt, hat es selbst erlebt. Er saß im Führerstand einer Berliner S-Bahn, als zwischen Schöneweide und Oberspree ein Mann vor den Zug sprang und ums Leben kam. Damals war Pasewald 38 Jahre alt, hatte davor schon einen Unfall miterlebt und stand unter großem Schock. Geholfen haben ihm Psychologen und ein sechswöchiger Klinikaufenthalt, bei dem er lernte, die schrecklichen Bilder wie einen Gegenstand zu verpacken und in einem gedanklichen Tresor abzulegen, dessen Tür zubleibt. »Man glaubt es kaum«, sagt Pasewald, »aber es gibt einige psychische Techniken, die einem helfen können«.

Als der Lokführer 2001 in Berlin den Selbstmörder überfahren hatte und Unterstützung in einer Selbsthilfegruppe für Betroffene von Angsterkrankungen suchte, fand er keine geeignete für seine Zwecke. Auch bei der S-Bahn war das noch ein Tabuthema. Da das Verdrängen des Problems auf keinen Fall eine Lösung sein konnte, gründete Pasewald die Lokführer-Selbsthilfe in Berlin. Alle 14 Tage treffen sich Betroffene und ihre Angehörigen, um sich auszutauschen oder von Psychologen helfen zu lassen. Ca. 25 Lokführer gehören zur Gruppe. Auch für die Angehörigen ist es wichtig, die medizinischen oder psychosozialen Auswirkungen des traumatischen Erlebnisses zu kennen. Nur so sind sie in der Lage, mit verstärkter Aggressivität, Schlafstörungen oder Depressionen umgehen zu können, die bei vielen Betroffenen folgen.

Für Lokführer ist das immer ein Schockerlebnis, sagte der Arzt Frank Bergmann vom Berufsverband Deutscher Nervenärzte (BVDN) am Mittwoch einer Nachrichtenagentur. »Er sieht es kilometerlang vor sich, weiß, was passiert, ist aber völlig hilflos in dieser Situation in seiner Lok. Es entwickeln sich Schuldgefühle, obwohl die Lokführer wissen, dass das Unglück nicht zu verhindern war.« Bergmann kennt Fälle, in denen Lokführer mit dem Erlebtem nicht fertig werden. Mehrfach begutachtete er betroffene Bahnmitarbeiter. Einem Patienten sei es zweimal passiert, dass sich ein Mensch vor seinen Zug geworfen habe. Er sei krank geworden und könne nicht mehr arbeiten.

Schienensuizide machten nach Angaben der freien Enzyklopädie Wikipedia zwischen 1991 und 2000 etwa sieben Prozent aller Suizide aus. Hier findet sich auch eine Angabe über die Unfallstatistik der Deutschen Bahn. Demnach wurden in den Jahren 1997 bis 2002 insgesamt 5731 Suizidereignisse registriert – im Durchschnitt 18 pro Woche! 5191 endeten tödlich. Auch bei Wikipedia nachzulesen: Unter Journalisten hätte sich ein Kodex etabliert, zurückhaltend über Schienensuizide zu berichten. Der Grund sei der sogenannte Werther-Effekt, bezogen auf Goethes Buch »Die Leiden des jungen Werthers«. Er meint, Todeswillige könnten sich in verstärkter Zahl auf die Gleise werfen, wenn sie von einem solchen Fall hörten. Einige Psychologen glauben nicht daran, aus Bahnkreisen wird die Häufung bestätigt. Hendrik Zörner, Pressesprecher des Deutschen Journalistenverbandes, kann lediglich den seit über 40 Jahren bestehenden Pressekodex bestätigen. In dem heißt es, die Presse verzichte auf eine unangemessene sensationelle Darstellung von Leid.

Bei der Deutschen Bahn gibt es einem Bahnsprecher zufolge seit einigen Jahren ein psychologisches Betreuungssystem, das Mitarbeiter bei der Verarbeitung solchen Geschehens unterstütze. 800 bis 900 Fälle eines Schienensuizids gibt der Konzern für ein Jahr an, der Grund für die Ungenauigkeit liegt darin, dass Suizide zusammen mit Unfällen erfasst würden.

9331 Menschen nahmen sich 2008 in Deutschland nach Angaben des Psychologen und Suizidforschers vom Universitätsklinikum Hamburg, Georg Fiedler, das Leben. Am 5. Januar 2009 hatte mit dem Milliardär Adolf Merckle ebenfalls ein Prominenter den Freitod auf den Gleisen gewählt.

www.lokführerselbsthilfe.de

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