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Auf den Spuren stummer Stars

Wie der Ökonom, Philosoph und Autor Volker Petzold zum Sandmannexperten wurde

  • Silvia Ottow
  • Lesedauer: 6 Min.
Sandmännchen-Events sind derzeit Mode: Filme, Fernsehshows, Ausstellungseröffnungen, Musicalankündigungen. Der DDR-Puppentrickfilmstar feiert am 22. November seinen 50. Geburtstag. Ein Mann hat seine Karriere und die der vergessenen Westkollegen begleitet.
Dr. Volker Petzold mit dem Objekt seiner Neugier im Filmpark Babelsberg
Dr. Volker Petzold mit dem Objekt seiner Neugier im Filmpark Babelsberg

Sommer 1992. Der Deutsche Fernsehfunk (DFF) in Berlin-Adlershof ist seit einigen Monaten abgeschaltet. Der promovierte Ökonom, studierte Philosoph und Hörfunkautor Volker Petzold, der die Auflösung dieses gigantischen Apparates in seinem letzten Jahr als stellvertretender Chefredakteur mit begleitet, sitzt in einer Villa in Berlin-Grünau. Er arbeitet für die »Neue Fünf-Länder-Einrichtung zur Abwicklung der Rundfunkeinrichtung (NFL)«. Vorübergehend, bis der DFF Geschichte ist.

Asyl für den Sessellift

Als Petzolds Telefon klingelt, ist Harald Serowski dran – eine Legende und gewissermaßen die Antwort auf die täglich millionenfach von Kindern gestellte Frage: Womit kommt der Sandmann heute? Serowski hatte über 200 Fortbewegungsmittel gebaut. Von der technischen Zeichnung über den maßstabgetreuen Entwurf bis zum fertigen Objekt schuf er so wunderbare Dinge wie den Lilienthalgleiter, die Postkutsche oder die Schienenschneefräse. Doch das Sandmann-Studio musste geräumt werden. Wohin mit all den Kostbarkeiten? Volker Petzold erinnert sich noch gut daran, wie sich im Foyer der Grünauer Villa die Raketen, Schiffe, Schlittschuhe, Traktoren, Schwebebahnen, Sessellifte, Kamele, Mähdrescher und Fischerboote aus Kisten schälten und sich die Kinder aus der Umgebung die Türklinke in die Hand gaben, um einen Blick auf die Zufallsausstellung aus 30 Jahren DDR-Kinderfernsehgeschichte zu erhaschen. Das war ein Schlüsselerlebnis für Petzold. Es gelang ihm, das Filmmuseum Potsdam zu begeistern. »Wo kann ich denn mal etwas über die Geschichte des Sandmännchens nachlesen?«, fragte er Harald Serowski. »Nirgends«, antwortete der.

Das saß und weckte Petzolds Interesse. Der 1951 geborene Hallenser hatte in Merseburg Betriebswissenschaften studiert, an der Ingenieurhochschule Köthen promoviert und ein Fernstudium der Philosophie in Jena absolviert. Sein Interesse gehörte darüber hinaus den Medien, bereits als Student schrieb er Sendungen für den Hörfunk. Später begleitete er im Kulturbund der DDR die Arbeit der Filmklubs. Heute organisiert Volker Petzold Filmfestivals in Deutschland und Osteuropa. Zur Zeit sitzt er in der Jury des Minsker Kinder- und Jugendfilmfestivals »Listapadsik«. 1991 ging er zum DFF nach Berlin-Adlershof, wo das Meinungsimperium der dahingeschiedenen Republik seinem Ende entgegen sendete. Beim Kinderfernsehen entwickelte man da noch gutgläubig eine Gute-Nacht-Sendung für ein zweites Programm – in dem Glauben, es werde schon irgendwie weitergehen. Gleichzeitig kämpfte man für das gute, alte Sandmännchen, denn es ging das Gerücht, der »Sender Freies Berlin (SFB)« wolle diese Sendung gar nicht ausstrahlen. Schließlich hatte man das Westsandmännchen gerade abserviert und diskutierte allen Ernstes den Vorschlag aus dem Rundfunkrat, eine »Erzähloma« einzuführen. Es hagelte Proteste. Zwei junge Familien, eine aus dem Westen und eine aus dem Osten, gründeten eine Initiative und standen jeden Abend an einem anderen Ort in Berlin, um »Unser Sandmännchen« zu retten.

Sand in West und Ost

»Wirklich in Gefahr«, glaubt Petzold im Rückblick, war das Sandmännchen nie. Die Sendereihe überzeugte mit unglaublicher inhaltlicher Bandbreite und bemerkenswerter Genrevielfalt. Vom November 1959 bis zur Wende entstanden 350 Vor- und Abspänne und mehr als 10 000 Abendgrüße. Wohl einige hundert Regisseure, Animateure, Autoren, Puppengestalter, Kameramänner, Schauspieler und Redakteure waren daran beteiligt, schätzt Petzold, der inzwischen zum Sandmännchenexperten avancierte, Kataloge, ein gutes Dutzend Fachbeiträge und zwei Bücher schrieb und Ausstellungen mitbetreute. In diesen Wochen gibt er gerade zahlreiche Interviews über die bärtige Lichtgestalt aus dem Osten. Anscheinend weiß niemand so Bescheid wie er.

Weil Petzold ein akribischer Mensch ist, konnte er auch mit so mancher Legende aufräumen, die sich im Laufe der Zeit über den sprachlosen Zeitgenossen mit dem Sandsäckchen ansammelte. So wird immer wieder gern erzählt, dass Sandmännchen eines Abends mit einem Ballon kam und am gleichen Tag Menschen aus der DDR mit ebensolchem Gefährt in den Westen abgehauen sein sollten. Sandmännchen war mal wieder ganz aktuell, frohlockte man im »RIAS Berlin«, und Sandmännchen durfte angeblich eine ganze Weile nicht mit dem Ballon fliegen. Petzold fand in den Sendeplänen keine Belege für diese Anekdote und das Ballonverbot. Dass Sandmännchens Entstehung vor 50 Jahren dem Wettlauf zwischen Ost und West zu verdanken ist, sieht er indessen vielfach bestätigt. Wie Dokumente aus dem Umfeld des damaligen Programmchefs Walter Heynowski belegen, hatte man von der Absicht des SFB gehört, ein Sandmännchen für Kinder im Programm zu installieren. In großer Hektik wurden im Osten Liedtext, Komposition und Puppe in Auftrag gegeben, um dem »Klassenfeind« zuvorzukommen. Der Komponist Wolfgang Richter erzählte, wie man ihm Zeilen am Telefon vorlas und für den nächsten Tag die Melodie erbat. Was für ein Ohrwurm gelang da über Nacht! Das Westsandmännchen ging eine Woche später, am 1. Dezember 1959, auf den Sender. Hatte Heynowski die Konkurrenz benutzt, um sein Konzept durchzupeitschen?

»Es gibt noch viele offene Fragen«, sagt Volker Petzold, der für sein Sandmännchen-Lexikon auch die Historie der beiden Westsandmännchen erforschte, die über den Erfolg ihres Ostkollegen nur staunen konnten. Petzold sprach mit Johanna Schüppel, der Schöpferin des SFB-Sandmännchens und engen Mitarbeiterin von Ilse Obrig, Begründerin der Sendereihe »Das Sandmännchen« im SFB. Er interviewte Rosemarie Schulz, die Animatorin und Ehefrau des NDR-Sandmännchenerfinders Herbert K. Schulz, und unzählige Kollegen. Von jedem erfuhr er eine neue Geschichte und einen Hinweis auf einen Beteiligten, den er noch nicht kannte. Eine so lückenlose Sandmann-Sendefolge wie im Osten gab es im Westen allerdings nicht. Lediglich der Schlafsandbringer vom NDR kann auf eine 26-jährige Sendezeit zurückblicken.

Politik und Kommerz

In einem zweiten Buch berichtet Petzold von der Geschichte der Sandmänner als Berufsstand – sie brachten Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts Scheuersand zum Saubermachen in die Häuser – über die Sandmännchenfilme in Ost und West bis hin zu neuen Rahmenhandlungen und Abendgrüßen, die von der Redaktion des RBB in Auftrag gegeben und in der Regel bei der Sandmann GmbH produziert wurden. Volker Petzold kennt wohl inzwischen die meisten Geschichten rund um den stummen Serienstar und seine Schöpfer. Er sah tausende Sendungen aus Ost und West, findet beim Westsandmännchen mehr Unterhaltung als Erziehung und beim Ostkollegen in der Vergangenheit mitunter rabenschwarze Pädagogik – etwa bei Meister Nadelöhr und Frau Puppendoktor Pille.

100 Sandmännchen-Filme wurden in den letzten 20 Jahren produziert, der Fuhrpark des 50-Jährigen erweiterte sich zum Beispiel um ein Solarmobil. Die zumeist etwas ältlich wirkenden Westschlafsandbringer konnten vom Boom des flinken Adlershofer Brüderchens nicht profitieren und warten bisher vergeblich auf Reanimation. Die von Regisseur und Puppengestalter Gerhard Behrendt vor einem halben Jahrhundert erfundene 25-Zentimeter-Zipfelmütze stiefelt weiter jeden Abend und noch immer zur Musik des Komponisten Wolfgang Richter über die Bildschirme des Kinderkanals und der dritten ARD-Programme. Zur Freude der kleinen Lauras und Tills, deren wichtigste Frage heute wie damals ist, mit welchem Fahrzeug ihr Liebling kommt.

Bei den Erben der ostdeutschen Einschlafhilfe, die immerhin täglich 1,5 Millionen kleine Zuschauer fasziniert, hört man noch heute einen gewissen Gram über die ostdeutsche Vergangenheit ihres kleinen Quotenkönigs mit. Etwa, wenn RBB-Intendantin Dagmar Reim bei der Eröffnung der Jubiläumsausstellung zu seinem 50. Geburtstag in Potsdam betont, dass Sandmännchen heute nicht mehr wie früher mit dem Panzer bei NVA-Soldaten vorfahre. Allerdings muss er sich gefallen lassen, dass sein Konterfei Schokolade, Senf und Seife ziert. Das mag auch nicht jedem passen, bringt aber Geld. Das Merchandising verwaltet die Firma telepool und die machte den Sandmann inzwischen zum Musicalhelden und Spielfilmstar. Neuer Stoff für den Experten.

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