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  • Bücher zum Verschenken 2009

Dämonen, Exzentriker, Fanatiker

Aus dem Nachlass: Ein 1000-Seiten-Roman von Roberto Bolaño

  • Uwe Stolzmann
  • Lesedauer: 4 Min.

Es geht gewaltsam zu in den Texten des Roberto Bolaño. Häufig ist der Tod präsent und häufig das Grauen. Das Werk des Chilenen zeigt eine Welt des Wahns, bewohnt von Monstern und Dämonen, Exzentrikern und Fanatikern. Da wird viel gequält und gelitten, und manche Taten, auch manche Täter haben den Dichter lange begleitet. El Gusano zum Beispiel, der Wurm. »Er taucht als erstes in einem meiner Gedichte auf, ein Mann, der eben wie ein Wurm aussieht, sehr bleich«, sagte Bolaño Ende der 90er in einem Fernsehgespräch. »Und dieses Gedicht verwandelt sich später in eine Geschichte, die Geschichte eines Dorfes im Norden von Mexiko, Bundesstaat Sonora ... Es gibt Dörfer, die Poeten hervorbringen, aus diesem Dorf kommen halt exzellente Mörder, Männer, die sehr kalt und sehr entschlossen sind.«

Schauplatz Sonora: Hier endet ein Roman aus dem Jahr 1998, »Die wilden Detektive«. Dieselbe Gegend, eine Wüstenregion an der Grenze zu den USA, ist das Zentrum jenes Werks, das Bolaño in den letzten Jahren seines Lebens schuf. »2666«. Was für ein Buch, ein gedruckter Akt der Aggression. Christian Hansen hat das Ungeheuerliche, dieses 1000-Seiten-Opus, einfühlsam übersetzt.

Es beginnt wie ein Spiel. In Teil eins, dem »Teil der Kritiker«, suchen vier Germanisten, ihr verschollenes Idol – ein Spanier, ein Italiener, ein Franzose, eine Engländerin. In den 90ern tigern sie durch Europa, von einer Fachtagung zur nächsten. Das Idol ist der Romancier Benno von Archimboldi, eine Erfindung Bolaños. Archimboldi, Jahrgang 1920, war im Krieg bei der Wehrmacht, Soldat an der Ostfront. Als Dichter wurde er später lange ignoriert. Nun aber, vor der Jahrtausendwende, ist er der wichtigste deutsche Autor. Doch wer steckt hinter dem Pseudonym? Und wo lebt dieser Archimboldi überhaupt? In Nord-Mexiko soll er gesehen worden sein. Und so reisen drei Kritiker in die Wüste von Sonora, in eine Stadt namens Santa Teresa, wo sie in der Hitze förmlich verdunsten.

Teil zwei, »Der Teil von Amalfitano«. Ein fiktiver Literaturprofessor ist die Hauptfigur, Amalfitano, Chilene wie Bolaño, einst ein überzeugter Linker (wie Bolaño), und wie Bolaño floh dieser Professor in den 70er Jahren vor Pinochet. Roberto Bolaño lebte den Großteil seines Lebens im Exil, erst in Mexiko, seit 1977 in Spanien. Amalfitano, der Professor, wohnt heute in Santa Teresa; von der linken Sache ist er abgerückt. Er liebt Kafka, Handke, Thomas Mann, er schätzt auch Archimboldi, den er mit Günter Grass und Arno Schmidt vergleicht, und langsam wird der Mann verrückt.

Immer düsterer wird die Stimmung der Erzählung. Teil drei, »Der Teil von Fate«, berichtet von einem schwarzen Journalisten aus den USA, der eines Boxkampfs wegen nach Santa Teresa kam. Fate heißt Schicksal, auch Verhängnis; der Sportreporter hört von einer Serie grausiger Frauenmorde. Nun sind wir in der Wirklichkeit der 90er: Unter Santa Teresa, Bolaños Ort, liegt ein realer Ort, Ciudad Juárez, der Industriemoloch an der Grenze, ein Abbild der Hölle. Ab 1993 wurden hier Hunderte Mädchen und Frauen umgebracht. War ein Serienmörder am Werk, ein kalt entschlossener Killer, wie El Gusano, der Wurm? Verdächtige wurden festgenommen, Beweise lagen vor, doch die Morde gingen weiter.

In Teil fünf des Romans, dem »Teil von Archimboldi», wird Bolaño das Lebensbild seines erfundenen deutschen Kollegen skizzieren. Und einen Bogen wird er schlagen von Santa Teresa zu anderen Tatorten, anderen Bluttaten – den Taten der Deutschen im Weltkrieg. Der düstere Kern des Romans aber ist Teil vier, »Der Teil von den Verbrechen«. Ein Verzeichnis der Morde von Santa Teresa alias Ciudad Juárez, 300 Seiten stark, abgefasst in der distanzierten Sprache der Forensiker. Auf obsessive Weise wird hier Gewalt beschrieben, die apokalyptische Seite unserer Gesellschaft.

An anderer Stelle wechselt der Erzähler plötzlich den Ton. Ironisch wird er; mit einem Augenzwinkern schaut der Autor in den Spiegel. »Der Stil war eigenartig«, schreibt Bolaño über ein Werk des grandiosen Benno von Archimboldi, »die Schreibweise klar, streckenweise geradezu transparent, aber die Art, wie sich die Ereignisse aneinanderreihten, führte nirgendwohin ...«

«2666«– was bedeutet der Titel? Im Text taucht die Zahl nicht auf (wohl aber in einem anderen Buch Bolaños). Vermutlich ist es eine Jahreszahl, Fingerzeig auf das drohende Ende unserer Welt. Der Roman hat eine eigentümliche Geschichte. Als sein Verfasser 2003 starb, war das Manuskript fast abgeschlossen. Um seine Kinder bestmöglich zu versorgen, sollte der Text in fünf Einzelbüchern publiziert werden. Doch die Erben und der Verleger haben sich über die Verfügung hinweggesetzt. 2004 erschien das Werk postum in Spanien, 2008 auch in den USA, wo man es seither feiert, wie schon lange keinen ausländischen Titel mehr. In der Tat: Bolaño hat eine neue Art Literatur vorgelegt, eine bislang einzigartige Collage, mal Thriller, Menetekel und mal Parodie auf den guten alten Bildungsroman. Schade, dass er den Erfolg nicht mehr erlebt.

Roberto Bolaño: 2666. Roman. A. d. Span. v. Christian Hansen. Hanser. 1095 S., geb., 29,90 €.

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