Ost-Entdeckung: Maisbrei explodiert doch

Wie aus einem Provinzprotest in drei Wochen der Umsturz in Rumänien erwuchs

  • Michael Müller, Bukarest
  • Lesedauer: 7 Min.
In Timisoara wurde im Dezember 1989 aus dem Protest gegen die Versetzung eines Priesters ein Aufbegehren gegen das Regime Nicolae Ceausescus. Rumänien war das einzige Land des »real existierenden Sozialismus«, in dem der Umsturz blutig und tödlich verlief. Teil 49 der ND-Serie.

Timisoara gilt heute als rumänische Vorzeigestadt. Der aus der k.u.k-Zeit stammende Marktplatz ist zumindest teilweise restauriert, Nebenstraßen und Vororte sind selbst im trüben Herbst weit weniger trist als anderswo im Land. Und Bürgermeister Gheorghe Ciuhandu scheint nur Sorgen auf hohem Niveau zu haben. Denn er versichert dem Reporter, sich auch in jetzigen Krisenzeiten Investoren noch aussuchen zu können. Für rumänische Verhältnisse – das Land ist neben Bulgarien ökonomisch wie sozial EU-Schlusslicht – sieht und hört sich das fast nach verkehrter Welt an; der Stunden-Bruttodurchschnittslohn liegt bei 4,20 Euro. Doch erklärend sei erwähnt, dass dieses Timisoara schließlich als die rumänische Heldenstadt von 1989 gilt.

»Heldenstadt?« Georgiana Dinu zuckt mit den Schultern. Die 23-Jährige studiert an der Polytechnischen Universität Elektrotechnik. »Davon ist nicht viel zu spüren. Heute ist eher ein Held, wer es hier in Rumänien aushält«, sagt sie. »An der Uni beispielsweise fehlt es an allem. An Räumen, Technik und Dozenten«, ergänzt Iulia Petrescu in der kleinen Studentenrunde in dem Café nahe dem Markt, dessen vor drei Jahren aufgefrischtes Schönbrunner-Gelb schon wieder arg blättert.

»Rationale Ernährung«

Solcherart Kritik hätte vor genau 20 Jahren an gleicher Stelle als völlig abwegig gegolten. Damals nämlich war Timisoara der Schauplatz der Ereignisse, mit denen das schnelle und brutale Ende der Sozialistischen Republik Rumäniens begann: mit erst friedlichen, dann blutigen, dennoch aber für den Moment gesehen eher marginalen Demonstrationen. Dieses Rumänien war vom Nationalstalinisten Nicolae Ceausescu, der sich selbstherrlich zum Contucator (Führer) erhoben hatte, vor allem seit Beginn der 80er Jahre im Stil eines Duodezfürsten gebeutelt und drangsaliert worden. Für den Winter 1989/90 hatte beispielsweise das seit 1982 geltende »Programm zur rationalen Ernährung« folgende Eckdaten: täglich 300 Gramm Brot, monatlich ein halbes Kilogramm Fleisch, 200 Gramm Käse, einen halben Liter Speiseöl, ein Kilo Zucker, fünf Eier und 100 Gramm Butter.

Stromabschaltungen waren alltäglich, die Temperaturen in fernbeheizten Wohnungen wurden auf zwölf Grad limitiert. Alles umrahmt von TV-Abendprogrammen (am Wochenende war Funkstille), in denen unablässig »der Führer des Landes« und »der strahlende Theoretiker und Stifter des Kommunismus« in einer Person geehrt wurden. Dies alles überwachte ein Staatssicherheitsdienst, die Securitate, mit rund 12 000 zivilen und 50 000 militärisch ausgerüsteten Leuten.

Die Rumänen sind von all ihren Fürsten und Diktatoren immer wieder mit einem zynisch-anfälligen Aperçu bedacht worden: Maisbrei explodiert nicht. Maisbrei meinte das (vor allem Mais essende) rumänische Volk, das sich dieses machtpolitische Axiom übrigens in resignierender, lähmender Weise schließlich auch selbst zu eigen machte.

Der Maisbrei explodierte auch unter Ceausescu lange nicht. Doch am Ende des Kalten Krieges, als der Conducator als Flirt- und Pokerpartner für Moskau, Washington und Peking bedeutungslos geworden war, reichte schon ein winziger Riss im Herrschaftsgefüge. Und der ließ in knapp drei Wochen so viel frische Luft herein, dass es implodierte.

Dieser Riss entstand in Timisoara. Hier hatte sich ein Priester, Laszlo Tökes, der Versetzung durch seinen Bischof (»Wegen Predigens gegen das Staatsinteresse«) widersetzt. Am 8. Dezember wurde Tökes nochmals drohend angekündigt, dass er am 15. Dezember aus der Dienstwohnung vertrieben würde. Doch da begann eine für Rumänien sensationelle Solidarisierung der Predigthörer mit ihrem Prediger. Als am 16. Dezember rund 200 Milizleute anrückten, kam es zur Rebellion. Es gab – offenbar auf beiden Seiten – erste Tote und Verletzte. Der ausdrückliche Schießbefehl Ceausescus wurde indes nur zögerlich befolgt. (An dieser Stelle beginnen übrigens alle möglichen und unmöglichen Spekulationen über den Umsturz in Rumänien.) Am 21. Dezember kamen in Timisoara rund 200 000 Demonstranten auf den Opernplatz. Eine »Rumänische Demokratische Front« forderte von der Rednertribüne den Rücktritt Ceausescus. Radiostationen aus Belgrad und Budapest, London und Paris durchlöcherten die landesweite Nachrichtensperre. Der Funke war bereits auf Sibiu und Brasov, auf Targoviste und Constanta übergesprungen.

Am 22. Dezember schließlich wollte Ceausescu in Bukarest bei einer Großkundgebung vor dem Haus des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei dem »Spuk des Hooliganismus« propagandistisch ein Ende bereiten. Doch es ertönten Buhrufe, und es waren Schüsse zu hören. Als deren Urheber werden bis heute genannt: reguläres Militär und Securitate-leute, Zivilisten und sowjetische wie libysche Agenten. Die Zahl der Todesopfer im ganzen Land wird offiziell mit 1104 angegeben.

Revolutions-Telenovela

Was an allem nur inszeniert und was echt war, wird wohl nie aufgedeckt werden. Ceausescu floh nebst Frau, Nr. 2 in der Hierarchie, und Leibwache per Hubschrauber vom Dach. Drei Tage später, ab Nachmittag des 25. Dezember, flimmerte, für das ungläubige rumänische Volk ständig wiederholt, ein Video über den Bildschirm, aus dem nur die Exekutionsschüsse selbst rausgeschnitten waren: Verhaftung von Nicolae und Elena Ceausescus, der kurze Prozess sowie Zurschaustellung und Abtransport der Leichen.

Genau an diese Bilder anknüpfend, resümiert der Schriftsteller Mircea Cartarescu dieser Tage in der Tageszeitung »Evenimentul Zilei«: »All das wurde uns im Fernsehen gezeigt. Und obwohl alles offensichtlich, die Wirkung einfach und das Bühnenbild billig war, glaubten wir mit offenen Augen an diesen Traum. Aber die Revolution war eine Telenovela, unsere süßliche Illusion. Früher wurden wir belogen, jetzt werden wir belogen. Vorher waren wir arm, jetzt sind wir noch ärmer.«

Cartarescu hebt darauf ab, was viele Rumänen spätestens seit Anfang 1990 bewegt: die gefühlte Gewissheit, dass diese vermeintliche Revolution bestenfalls eine steckengebliebene ist. Wenn sie nicht überhaupt nur eine Palastrevolution der alten Führungsclique war, die die Demonstrationen als Mimikry benutzte und Ceaucescu nebst Frau beseitigte, um sich selbst vor dem Volkszorn der Straße zu retten.

Die auf die engste, abgeurteilte Ceausescu-Clique folgende politische Klasse, die sich vorzugsweise aus seinen früheren Mitstreitern rekrutierte, hat vor allem am nationalistischen und rassistischen Rand ganz schlimme Akteure. Beispielsweise in der Großrumänien-Partei von Corneliu Vadim Tudor, der bei der Präsidentschaftswahl 2000 immerhin mit einem Drittel aller Stimmen nur in der Stichwahl unterlag. Der Mann war einer der Hofdichter Ceaucescus und mutierte nach 1989 dank der Parteizeitschrift »Romania Mare« zum führenden Antisemiten und Verherrlicher des faschistischen Ministerpräsidenten Ion Antonescu. Unter dessen Regime (1941 bis 1944) fielen bis zu 380 000 Juden und Roma dem Holocaust zum Opfer. Nach diesem Antonescu sind in Rumänien inzwischen dutzendfach Straßen und Plätze benannt worden. Die Historikerin Dana Oaneca geht in ihrer Dissertation »Mythen und Vergangenheit – Rumänien nach der Wende« davon aus, dass allein die Mitgliedschaft Rumäniens in NATO und EU (und vor allem die entsprechenden Geldtransfers – M.M.) weiteren blanken Antisemitismus, Nationalismus und Chauvinismus bändige.

Im Bukarester Stadtbild war bisher wenig von Erinnerung an den Dezember vor 20 Jahren zu spüren. Auch um den Universitätsplatz herum nicht. An dem schlichten Gedenkkreuz auf dem nahen Nicolae-Balcescu-Boulevard liegen wie immer ein paar Blumen. Zehn Minuten zu Fuß weiter, den Unirii-Boulevard hinunter, ragt der Koloss des einstigen »Hauses des Volkes« wie ein Symbol für all die gebliebenen rumänischen Probleme in den Himmel.

»Warum nur muss in diesem Wahrzeichen des Ceausescu-Wahnsinns weiterhin das Parlament tagen?«, fragt sich Christian Marcu. Er hat jüngst sein Diplom als Betriebswirt gemacht, arbeitet bei einer Handelskette, kommt aber immer noch in seinen urigen alten Studentenklub zurück. »Hätte man den Koloss damals bloß Michael Jackson kaufen lassen. Der wollte daraus einen Weltpopklub machen, hatte er hier verkündet. Das wär's gewesen!«

Trauer und Wut

Am 20. Jahrestag der Wende sieht Christian Marcu nicht viel Feiernswertes. »Stattdessen gibt es ein paar Monate später Grund zu Trauer und Wut. Im Frühjahr '90 hatten die Studentenproteste gegen die neuen alten Ceausescu-Leute begonnen, die sie blutig zusammenschlagen ließen. Die Rechnung ist noch offen«.

Was der junge Mann damit meint, wird klar, wenn zu später Stunde im Studentenklub ein Lied aus diesem Frühjahr 1990 angestimmt wird: »Ich bin lieber ein Landstreicher als ein Verräter, lieber ein Hooligan als ein Diktator ...« Das zielte und zielt darauf, dass der Ceausescu-Nachfolger im Präsidentenamt, Ion Iliescu, die Studenten von 1990 ebenso als Hooligans beschimpfte wie vor ihm Ceausescu die Demonstranten von 1989.

Ein Ziehsohn Iliescus, Mircea Geoana, hatte bei der gestrigen Stichwahl übrigens gute Chancen, neuer Präsident Rumäniens zu werden. Sein Wahlgegner Traian Basescu wiederum verantwortete als amtierender Präsident das geheime CIA-Gefängnis auf dem Militärstützpunkt Mihai Kogalniceanu und beschimpfte eine Journalistin, die ihm das vorhielt, als »stinkende Zigeunerin« und »Nutte«. Die Rumänen haben also auch 20 Jahre nach dem Umsturz keine allzu große Wahl.

Am nächsten Montag:
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