Armut verfolgt bis ins Grab

Immer mehr Berliner können die Beerdigung von Angehörigen nicht mehr selbst bezahlen

  • Ulrike von Leszczynski, dpa
  • Lesedauer: 4 Min.
Die Zahl der Sozialbestattungen, bei denen Land und Bezirke die Kosten tragen, wächst auch in Berlin. Inzwischen gibt das Land rund drei Millionen Euro im Jahr aus, damit Angehörige ihre Toten würdig unter die Erde bringen können.

Berlin. Die Armut verfolgt die Berliner bis ins Grab. Immer mehr ALG-II-Empfänger und Geringverdiener können die Beerdigungen ihrer nächsten Angehörigen nicht mehr bezahlen und beantragen eine Sozialbestattung. Denn dann begleicht das Land Berlin die Rechnung. Vom Jahr 2001 bis 2009 haben sich die Ausgaben für Sozialbestattungen allein im Bezirk Mitte fast vervierfacht – auf mehr als eine halbe Million Euro. Im Jahr gibt Berlin inzwischen rund drei Millionen Euro aus, damit Angehörige ihre Toten würdig unter die Erde bringen können.

»Die Tendenz zu Sozialbestattungen ist deutlich gestiegen«, sagt Rüdiger Kußerow, Obermeister der Bestatterinnung Berlin-Brandenburg. Es wundert ihn nicht. 2004 sei das Sterbegeld der Krankenkassen weggefallen. Viele Berliner hätten sich seitdem nicht versichert, um für Beerdigungskosten vorzusorgen. »Die Leute können sich das einfach nicht mehr leisten«, so Kußerow. »Es gibt ja immer mehr Hartz-IV-Empfänger.«

750 Euro vom Sozialamt

Insgesamt gab das Land Berlin im Jahr 2007 rund 2,9 Millionen Euro aus, weil Berliner ihre nächsten Verwandten nicht aus eigenen Mitteln beerdigen konnten. Neuere Gesamtzahlen liegen nicht vor, heißt es in der Senatsverwaltung für Soziales. Doch die Drei-Millionen-Euro-Marke dürfte inzwischen überschritten sein. Allein in Mitte ist die Zahl der Bestattungen auf Staatskosten deutlich gewachsen. 545 000 Euro gab der Bezirk 2009 dafür aus. Drei Jahre zuvor waren es 413 000 Euro. 750 Euro zahlen die Sozialämter Berliner Beerdigungsunternehmen für eine Sozialbestattung. Zusammen mit Friedhofs- und Verwaltungsgebühren kostet ein »Armenbegräbnis« dem Amt rund 1000 Euro. Die Ausgaben werden den Bezirken vom Land zurückerstattet.

Im Unterschied zu Sozialbestattungen gibt es noch die Bestattungen »von Amts wegen«, wenn keine Angehörigen zu finden sind und kein Vermögen übrig blieb. Um diese Beerdigungen kümmern sich die Gesundheitsämter. Der Tote wird so kostengünstig wie möglich unter die Erde gebracht.

Sechs Wochen im Kühlhaus

Bei Sozialbestattungen ist das anders. Angehörige können zwischen Erd- und Urnengrab wählen. Auch Organist und Blumenschmuck werden vom Sozialamt bezahlt. Eine würdige Beerdigung sei auch für 750 Euro möglich, sagt Bestatter Kußerow. Der Innungs-Obermeister fürchtet etwas anderes. »Viele Angehörigen sparen sich die Trauerfeier und ein Beisammensein nach der Beerdigung. Sie sparen sich Grabsteine und Grabpflege. Da geht ein Stück Kultur verloren.« Kußerow berichtet aber auch davon, dass Tote schon sechs Wochen lang im Kühlhaus lagen, weil die Behörden vor einer Sozialbestattung erst die Vermögensverhältnisse der Angehörigen genau prüfen wollten.

Neil Turan erlebt im Sozialamt Neukölln jedoch auch Menschen, die sich weder für die Beerdigung ihrer Eltern interessieren noch dafür zahlen wollen. »Sie sagen dann, dass die Eltern sich ja auch nicht um sie gekümmert haben«, sagt Turan. Im Viel-Nationen-Bezirk Neukölln sei das ein »spezifisch deutsches Problem«. Neuköllnern mit ausländischen Wurzeln seien würdige Bestattungen wichtiger. »Doch das lässt langsam nach«, sagt Turan. Auch Migrantenfamilien fielen inzwischen auseinander. Sozialbestattungen sind für ihn nicht nur mit Hartz IV verknüpft. »Das geht durch alle Schichten. Davon sind auch Geringverdiener betroffen.« Um die Beerdigung der nächsten Angehörigen kommt niemand herum, auch wenn die Verstorbenen Schulden hinterlassen.

Als Faustregel gilt, dass die gesetzlichen Erben sich darum zu kümmern haben – auch wenn sie selbst kaum Geld besitzen. Manche Angehörige müssen ihre Lebensversicherungen kündigen, um Bestattungen zu finanzieren. Denn das Sozialamt prüft alle Arten von Vermögen, ehe es Beerdigungskosten übernimmt.

Häufig geschehe diese Prüfung aber rückwirkend, berichtet Neil Turan aus Neukölln. In der Regel könne ein Verstorbener nach einem Antrag auf Sozialbestattung schnell beerdigt werden. »Es sei denn, die Verwandten wirken nicht mit.« Um die Kosten aber streiten sich Amt und Angehörige manchmal noch Jahre später.

Häufig wird gesammelt

Im Sozialamt Mitte hat Bezirksstadtrat Stephan von Dassel auch Fälle erlebt, in denen bedürftige Menschen gerade für ihren Tod vorsorgen wollten. Doch aus Geldnot kündigten sie die abgeschlossene Versicherung dann doch wieder. Viele Berliner sterben heute, ohne genug Mittel für ihre Beerdigung zu hinterlassen.

Die Zahl der Sozialbestattungen ist für von Dassel dennoch kein deutlicher Indikator für steigende Armut in Berlin. »Ich halte die Grundsicherungszahlen für aussagekräftiger«, sagt er. Viele Angehörige wollten bei einem Trauerfall trotz Bedürftigkeit nicht zum Sozialamt. »Häufig wird in der ganzen Familie Geld für die Beerdigung gesammelt, auch bei Nachbarn, Freunden oder Bekannten.«

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