Ein »Denkmal« für die Tonga

Indiens Hauptstadt zieht den originellen, archaischen Einspänner aus dem Verkehr

  • Hilmar König, Delhi
  • Lesedauer: 3 Min.
Das »Tonga-Denkmal« vor dem Punjabi-Restaurant in Gurgaon
Das »Tonga-Denkmal« vor dem Punjabi-Restaurant in Gurgaon

Als die Betreiber des rustikalen Punjabi-Spezialitätenrestaurants im modernen Stadtgebiet von Gurgaon im Unionsstaat Haryana vor ein paar Jahren als »Lockvogel« für ihre Gäste vor dem Eingang ihres Etablissements eine »Tonga« – die traditionelle nordindische Droschke samt Pferd und Kutscher – installieren ließen, ahnten sie wohl nicht, dass sie damit dem originellen zweirädrigen Gefährt ein Denkmal setzten.

Denn im keine 20 Kilometer entfernten Delhi, wo die Tonga als Personenbeförderungs- und in abgewandelter Form als Transportmittel am längsten überlebt hatte, fiel nun der Vorhang für die archaische Kutsche. Die Verwaltung der Hauptstadt entschied, die Tonga in diesem Frühjahr aus dem Verkehr zu ziehen. Sie war ohnehin nur noch im alten Teil Delhis, beispielsweise im Chandni Chowk rund um die imposante Freitagsmoschee, unterwegs. Die Behörden hatten das Gefährt schon vor Jahren von den Hauptstraßen verbannt. Jetzt im modernen Zeitalter, so befand Stadtrat Vijendra Gupta, sei »kein Platz mehr da für die langsamen, sperrigen Vehikel«. Sie seien lediglich Hindernisse im zähen Straßenverkehr. Zudem mangele es an Kundschaft. Und die Zugpferde würden ohne ausreichendes Futter in extrem schlechten Verhältnissen unter freiem Himmel untergebracht.

Die überwiegend muslimischen »Tongawallahs«, die Kutscher, wehrten sich vergeblich gegen das Aus für ihren Job, den sie von Generation zu Generation »vererbten«. Die Kutsche soll aus dem 17. Jahrhundert stammen, aus Zeiten des Moghulkaisers Shahjahan. Noch in den 1990er Jahren konnte man sie mit Großfamilien vollgepackt in Delhi beobachten. Zugleich galt sie als relativ billiges Transportmittel für Gemüse- und Holzhändler, für Umzüge des kleinen Mannes. Sie war hochbeladen mit Körben, Fässern, Säcken, Kisten, Röhren, Eisenstangen und Schienen. So hatten die Tongawallahs ein zwar kümmerliches, doch regelmäßiges Einkommen, mit dem sie mehr schlecht als recht ihre meist vielköpfigen Familien durchbrachten. Sie verdienten zwischen 350 und 450 Rupien am Tag (5,50 bis 7 Euro), von denen rund 150 Rupien für Futter abgezweigt werden mussten.

Sie kämpften nun um den Erhalt wenigstens einiger »historischer Routen« in der Altstadt als Attraktion und Freizeitvergnügen für Touristen. Sie argumentierten, es handele sich um ein Stücke bewahrenswerten kulturellen Erbes. Es half nichts. Für 232 offizielle Tonga-Kutscher, die eine behördliche Genehmigung besitzen, und für zwei Dutzend illegale Droschkenbesitzer ist die Uhr abgelaufen. Die Stadtverwaltung stellte 3,5 Millionen Rupien für die soziale Rehabilitation der Kutscher zur Verfügung. Als Alternativen bietet sie ihnen an, auf mobile Kioske umzusteigen oder eine umweltfreundliche Gütermotorrikscha zu erwerben, die mit komprimiertem Erdgas betrieben wird. Ein Viertel des Anschaffungspreises soll aus dem Stadtsäckel kommen. Trotzdem bleibt eine solche Rikscha für die meisten unerschwinglich.

Deshalb erheben die Tongawallahs Einwände. Die einen wollen ihre angestammten Plätze in der Stadt nicht verlassen und sich nicht von ihren Tieren trennen. Andere, wie Mohammed Farman, fragen: »Wie sollen wir arbeiten und wo wohnen, wenn sie uns mit den Mobilkiosken an den Stadtrand verfrachten?« Und Mohammed Kamil fügt hinzu: »Ich bin ja bereit, einen geeigneten Job anzunehmen. Aber meine Fähigkeiten sind doch begrenzt. Ich kann nichts anderes, als mein Tongapferd lenken.«

So kommt es, dass die Besucher des Punjabi-Restaurants in Gurgaon künftig ihren Kindern am »Denkmal« vor dem Eingang erklären werden, was einmal eine Tonga war.

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