Weltgeschichte auf dem Dorfanger

Lebensläufe aus Aurith und Urad – von beiden Ufern der Oder / Tina Veihelmann, 1970 in Werneck (Unterfranken) geboren, arbeitet beim »Freitag«

  • Lesedauer: 4 Min.
Aurith liegt an einem Ufer der Oder, Urad am anderen. Einst waren diese Orte ein Dorf; heute verläuft zwischen ihnen die deutsch-polnische Grenze. Die Journalistin Tina Veihelmann hat eine zweisprachige Dokumentation verfasst, in der Bewohner von beiden Ufern zu Wort kommen.

ND: Warum interessiert Sie die Provinz an der Oder?
Veihelmann: Über Städte mit einer deutschen und einer polnischen Hälfte hört man ziemlich viel. Die Situation der geteilten Dörfer wird seltener beleuchtet, obwohl die Grenze zum größten Teil ländlich geprägt ist. Da es hier kaum Grenzübergange gibt, kommen die Leute nicht so einfach auf die andere Seite.

Wie ist die Situation in Aurith und Urad, die 25 Kilometer südlich von Frankfurt (Oder) liegen?
Das waren früher zwei Hälften eines Dorfes. Auf der östlichen Seite wohnte man, auf der westlichen waren die Felder. Es gab eine Fähre, die nach 1945 nicht wieder eingerichtet wurde. Heute hat das polnische Urad 400 Einwohner, das deutsche Aurith 60.

Wollten Sie wieder eine Verbindung herstellen?
Uns ging es um eine Veränderung in den Köpfen. Die Menschen haben keinen Anlass, nach drüben zu fahren, weil sie keine Vorstellung von der anderen Seite haben. Das Kommunikationsdesigner-Kollektiv anschlaege.de hatte die Idee, diese fehlenden inneren Bilder zu ergänzen. Wir stellten 2004 im Wochentakt ein lebensgroßes Bild eines Bewohners der jeweils anderen Seite auf der Straße auf. Daneben stand über diese Person eine Geschichte. Und diese sammelte ich; so entstand das Buch.

Die Menschen dort gelten als verschlossen. Wie kommt man an sie heran?
In Brandenburg ließen uns die Ersten erst nach einem halben Jahr auf ihren Hof. Dort gibt es das Zampern, ähnlich wie Fastnacht. Die Aurither verkleiden sich, ziehen mit einem Traktor los und machen vor jedem Hof so lange Musik, bis die Bewohner Schnaps und Eier geben. Nachdem wir das mitgemacht hatten, waren wir mit den Leuten wesentlich wärmer.

Und im polnischen Dorf?
Zuerst baten wir den Priester um Unterstützung; das hat nicht funktioniert. Aus Frust gingen wir in den Lebensmittelladen; das ist auch die informelle Kneipe – das war der richtige Einstieg.

Beide Orte wurden ab 1945 von Umsiedlern und Vertriebenen bezogen. Spielt das noch eine Rolle?
1945 waren beide Dorfhälften leer. Auf der deutschen Seite wurden hauptsächlich Menschen aus Schlesien angesiedelt. Auf der anderen Seite aus der Ukraine, Weißrussland und von den Beskiden. Sie mussten sich einen neuen Ort als Heimat aneignen. Dieser Prozess war schwierig und ist zum Teil noch immer nicht abgeschlossen.

Wie sind Sie damit umgegangen, dass die Ihnen geschilderten Erinnerungen manchmal historisch nicht korrekt sind?
Am Anfang war ich darauf aus, »die Wahrheit« herauszufinden. Dann habe ich begriffen, dass mir Erinnerungen erzählt werden. Diese Geschichten parallel zu erzählen, die deutsche und die polnische Perspektive auf diese Umsiedlungen nebeneinander zu stellen, erwies sich aber schließlich als sehr spannend. Da wird »große Geschichte« anhand von einem Mikrokosmos und sehr persönlichen Geschichten greifbar.

Die Region gilt als strukturschwach. Wie kommen die Menschen damit klar?
Beide Orte sind von Abwanderung und hoher Arbeitslosigkeit geprägt. Das Interesse an unseren Wandzeitungen betraf daher oft praktische Dinge – die Bewältigungsstrategien, mit der Situation umzugehen. Auf der deutschen Seite versucht ein ehemaliger Forstwirt, ein Sägewerk zu gründen. In Urad baute eine Frau einen Schafstall zum Fernfahrerrestaurant um. Auf beiden Seiten besteht das Problem, ohne Startkapital auf die Füße kommen zu müssen.

Wo liegen die Unterschiede?
In Polen spielen die kleinen dörflichen Kreisläufe eine große Rolle, weil es hier wesentlich weniger Arbeitslosenunterstützung gibt. Hier existierte lange auch Menschenschmuggel in Booten über die Oder. Das förderte auch die Ressentiments auf deutscher Seite.

Welche Nachwirkungen hatte Ihre Anwesenheit?
Inzwischen gibt es den Plan, durch Aurith eine Schnellstraße und eine entsprechend große Brücke zu bauen. Dagegen wehrten sich das deutsche und das polnische Dorf gemeinsam. In diesem Zuge einigten sich beide Orte auf die Forderung einer Fähre für Fußgänger und Fahrräder. Das hätten wir uns zu Beginn des Projekts nicht träumen lassen.

Interview: Antje Rößler

Tina Veihelmann: »Aurith/Urad. Zwei Dörfer an der Oder«, Deutsches Kulturforum östliches Europa 2009; 248 Seiten, 9,80 Euro www.tina-veihelmann.de

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