Intelligenz ohne Moral

US-Forscher identifizieren Hirnareal für ethisches Urteilsvermögen

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 4 Min.

Normalerweise stellen Neurobiologen ihren Versuchspersonen spezielle Aufgaben und prüfen mittels bildgebender Verfahren, welche Hirnareale aktiv sind. Es geht aber auch umgekehrt, wie ein Forscherteam um Liane Young vom Massachusetts Institut of Technology (MIT) gezeigt hat: Man verändert die Hirnaktivität und verfolgt, wie dadurch das Denken beeinflusst wird oder die Fähigkeit, »gut« und »böse« zu unterscheiden.

Als »böse« gilt gemeinhin, was Menschen Schaden zufügt. Aber selbst wenn niemand verletzt oder getötet wird, kann eine Handlung moralisch verwerflich sein. Beispiel: Jemand fährt im volltrunkenen Zustand Auto, ohne einen Unfall zu verursachen. Auch ein fehlgeschlagener Mordversuch wird in der Regel mit der ganzen Härte des Gesetzes geahndet. Anders verhält es sich mit Menschen, deren Taten zwar moralisch inakzeptabel sind, an deren guten Absichten aber kein Zweifel besteht. Sie werden gewöhnlich milder beurteilt.

Für sämtliche Einschätzungen dieser Art bedarf es einer gewissen geistigen Reife, die etwa Kleinkinder nicht besitzen. Sie beurteilen eine Handlung allein nach ihrem Resultat: Schuld ist, wer etwas kaputt gemacht hat. Ob dies mit Absicht geschah oder aus Versehen, spielt dabei keine Rolle. Das heißt, Kleinkindern fehlt das Gespür für soziale Motive. Denn erst im Laufe des Erwachsenwerdens entwickelt jeder Mensch, wie Psychologen sagen, eine »Theory of Mind«, die es ihm gestattet, sich in das Denken und Fühlen anderer hineinzuversetzen.

Einmal erworben, wird diese Fähigkeit im Gehirn gleichsam fest verdrahtet. Das zeigt sich unter anderem daran, dass Menschen mit speziellen Hirnverletzungen zwar nicht ihre Intelligenz, aber ihr Moralempfinden einbüßen: Sie lügen, schlagen, stehlen und bereuen nichts von alledem. Die Literatur kennt hierfür ein klassisches Beispiel: Im Jahr 1848 bohrte sich dem US-Schienenarbeiter Phineas Gage bei einer Explosion eine Eisenstange tief ins Gehirn. Er überlebte wohl, aber sein Charakter wandelte sich grundlegend. War Gage zuvor freundlich und zuverlässig gewesen, fiel er nun durch besondere Aggressivität und Verantwortungslosigkeit auf.

Offenkundig hatte der Unfall bei Gage auch das Zentrum für moralisches Urteilsvermögen geschädigt. Doch wo im Gehirn liegt dieses? Untersuchungen durch bildgebende Verfahren nähren die Vermutung, dass ein relativ kleines Hirnareal an unseren moralischen Entscheidungen maßgeblich beteiligt ist: die oberhalb des rechten Ohres gelegene temporoparietale Übergangsregion (RTPJ). Denn immer dann, wenn Menschen über moralische Probleme angestrengt nachdenken, ist diese Region aktiv.

Um den Beweis gewissermaßen von der entgegengesetzten Seite her zu führen, haben die erwähnten MIT-Forscher bei ihren Versuchspersonen die temporoparietale Übergangsregion vorübergehend außer Funktion gesetzt, was möglich ist, wenn man diese einem starken Magnetfeld aussetzt. Anschließend wurden die Probanden gebeten, vier unterschiedliche Szenarien moralisch zu beurteilen. Szenario 1: Eine Frau namens Grace gibt ihrem Freund Zucker in den Kaffee, von dem auch sie annimmt, dass es Zucker ist. Szenario 2: Grace beabsichtigt, Gift in den Kaffee zu tun, aber es ist nur Zucker. In beiden Fällen bleibt der Freund unversehrt. Szenario 3: Grace glaubt, es ist Zucker, aber es ist Gift. Der Freund stirbt. Szenario 4: Grace weiß, dass der Zucker in Wahrheit Gift ist. Sie tötet ihren Freund also absichtlich. Auf einer Skala von eins bis sieben sollten die Probanden nun angeben, ob und wieweit das jeweilige Szenario als moralisch akzeptabel oder verwerflich anzusehen sei.

Über die Ergebnisse des Experiments berichten Liane Young und ihre Kollegen »Proceedings of the National Academy of Sciences« (DOI: 10.1073/pnas.0914826107). Danach urteilten die Personen mit blockierter RTPJ in drei vor vier Fällen nicht viel anders als die Mitglieder einer Kontrollgruppe, bei denen andere Hirnregionen magnetisch stimuliert worden waren. Deutliche Unterschiede ergaben sich hingegen bei der Bewertung von Szenario 2, wo Grace zwar Böses tun wollte, aber daran scheiterte, ihren Vorsatz in die Tat umzusetzen. Die Versuchspersonen mit blockierter RTPJ hatten für Grace hier erheblich mehr Verständnis als die Mitglieder der Kontrollgruppe, für die bereits die Tötungsabsicht moralisch verwerflich war.

»Wenn die Aktivität der temporoparietalen Übergangsregion gestört wird, werden die moralischen Urteile von dem Grundsatz geleitet: Solange jemand keinen Schaden angerichtet hat, hat er auch nichts Schlimmes getan«, erklärte Young gegenüber der britischen Zeitung »The Times«. Zugespitzt könnte man sagen, dass die Versuchspersonen ohne funktionierende RTPJ zeitweilig mit einem Gehirn agierten, das faktisch über keine »Theory of Mind« verfügte. Damit wird deutlich, dass das menschliche Moralempfinden nicht allein auf neurobiologischen Grundlagen beruht, sondern auch darauf, dass ein Mensch im Laufe seiner Entwicklung all das produktiv verarbeitet, was in seiner sozialen Umwelt geschieht. Nur so gelingt es ihm, die Welt aus der Perspektive anderer Personen zu betrachten und deren Motive und Wünsche zu verstehen.

Ausgehend davon könnten die neuen Erkenntnisse auch praktische Bedeutung erlangen, meint Youngs Kollegin Rebecca Saxe. Zum Beispiel bei der Behandlung neuronaler Entwicklungsstörungen wie Autismus. Denn die Betroffenen hätten hier ebenfalls Schwierigkeiten, die Absichten anderer Menschen zu erkennen und richtig einzuschätzen. Für Saxe stellt sich deshalb die Frage: Ist es möglich, ein Gehirn durch äußere Stimulation zu veranlassen, Ansätze einer »Theory of Mind« nachträglich zu entwickeln? Noch weiß das niemand, aber es herauszufinden, halten die MIT-Forscher für lohnenswert.

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