Wandern entlang der Front

Das alte West-Berlin

  • Kai Agthe
  • Lesedauer: 2 Min.

Dass eine Zeitung am Tag ihres Erscheinens und dann erst einhundert Jahre später wieder von Interesse sei, ist eine Binsenweisheit. Aber auch nach drei oder vier Jahrzehnten kann es sehr spannend sein, Beiträge aus Printmedien wieder zu lesen. Das beweisen auch jene Reportagen und Glossen, die der Romancier und Journalist Rudolf Lorenzen (Jg. 1922) über West-Berlin schrieb und die jetzt als Buch vorliegen. »Paradies zwischen den Fronten« hat er seine Sammlung von Texten genannt, die zwischen 1965 und 1972 erschienen. Es sind allesamt penibel recherchierte, faktenreiche und stets flott geschriebene Artikel, die seinerzeit in der »Weltwoche Zürich«, der Berliner Tageszeitung »Der Abend« sowie im Magazin »Berliner Leben« veröffentlicht wurden und heute von erheblichem kulturhistorischen Wert sind.

Wir besuchen mit Rudolf Lorenzen im Jahr 1966 die Siegessäule und lauschen ihren Besuchern. Wir staunen mit dem Autor über jene »Grunewald-Alpinisten«, die bereits 1965 am Teufelsberg auf Skiern zu Tale jagten. Lorenzen weiß auch zu berichten, dass das alte West-Berlin 1969 über nahezu 200 Kilometer U-Bahn-Netz, 1970 über 120 Kilometer schiffbare Flüsse und Kanäle sowie über 680 Kilometer Waldwanderwege verfügte. Und auf einen West-Berliner Bürger kamen damals statistisch gesehen gut drei Bäume.

Ein abgeschlossenes Kapitel der Stadtgeschichte ist der Flughafen Tempelhof. Rudolf Lorenzen hat ihn an einem kalten Januartag (minus 17,7 Grad) des Jahres 1971 aufgesucht. Im Beitrag »Airport im Winter« berichtet er anschaulich über das Funktionieren dieses komplexen Verkehrs-Organismus unter extremen äußeren Bedingungen. Am Anfang steht ein ebenfalls 1971 entstandener Beitrag, der dem Buch auch den Titel lieh: Jenes Paradies meint die Exklave Steinstücken, die erst drei Jahre nach dem Mauerbau offiziell ein Stück jener Insel wurde, die im Westen die »Frontstadt«, im DDR-Sprachgebrauch aber »die selbständige politische Einheit West-Berlin« genannt wurde.

Wer etwas über das Selbstverständnis von West-Berlin, das Lebensgefühl und die Themen erfahren möchte, die die Stadt in den späten Sechzigern und frühen Siebziger bewegten, sollte zu den Texten von Lorenzen greifen.

Rudolf Lorenzen: Zwischen den Fronten. Reportagen und Glossen aus Berlin (West). Verbrecher Verlag.. 226 S., brosch., 12 €

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