Nie mehr Schlachtvieh sein

Die Vision des Anton Pannekoek vom selbstbestimmten Menschen und Sozialismus

  • Oliver Matz
  • Lesedauer: 3 Min.

Der Niederländer Anton Pannekoeks (Foto: Archiv), dessen 50. Todestag sich am 28. April jährt (1873-1960), gehörte zu den bedeutendsten Theoretikern eines emanzipatorischen Sozialismus. Schon während seines Studiums der Astrologie in Leiden hatte Pannekoek ein starkes Interesse für den Marxismus gezeigt. Bereits kurz nach seinem Beitritt zur holländischen Arbeiterpartei SDAP, wo er auf dem äußersten linken Flügel stand, begann er publizistisch für die »Nieuwe Tijd-groep (Gruppe neue Zeit)« tätig zu sein. Politischer und polizeilicher Druck veranlassten ihn 1906 nach Deutschland zu emigrieren.

Die Jahre unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg waren durch den Ausbruch großer, spontaner Streiks (England 1911 und 1912, Belgien 1913) geprägt. Die Arbeiterparteien bemühten sich, diese unter ihre Kontrolle zu bekommen und sie abzuwürgen. Dies den Interessen der Arbeiter entgegengesetzte Verhalten offenbarte Pannekoek den Antagonismus zwischen Arbeitern und Arbeiteraristokratie. Die Funktionäre hatten sich den Massen entfremdet und waren durch bürgerliche Pfründe wie bessere Entlohnung und öffentliche Ämter vom kapitalistischen System korrumpiert. Dieser Eindruck verstärkte sich während des Ersten Weltkrieges. Wo auch immer Arbeiter für ihre ureigenen Interessen auf die Straße gingen, taten sie dies gegen den Willen der Gewerkschaften und Parteien. Die sich in jener Zeit, vor allem in Russland und Deutschland, spontan bildenden Arbeiterräte sah Pannekoek als neue revolutionäre Arbeiterbewegung an. »Der Weltkrieg bedeutete den Zusammenbruch der alten Arbeiterbewegung und ihrer Ideologie. Tief enttäuscht, ja verzweifelt sahen die Arbeiter, dass sie selbst, dass ihre Klasse machtlos war, gezwungen, wie willfährige Sklaven ihren Herren zur Schlachtbank zu folgen. Alle so laut verkündeten Prinzipien des Klassenkampfes und der internationalen Solidarität waren vergessen und verraten.«

Die Arbeiterräte fungieren nach Pannekoek als Vertretungen aller am Produktionsprozess Beteiligten. Deren Organisation beruhe auf der Teilnahme und Mitarbeit selbstbestimmter Menschen. Zwar bestehe auch dort Gehorsam gegenüber einmal getroffenen Entscheidungen, doch die habe jeder einzelne Arbeiter mit verabschiedet. Pannekoek widersprach dem bürgerlichen Standpunkt, ohne Führer würde alles nur im Chaos enden: »Die Intellektuellen glauben, nur sie seien dazu befähigt und vorbestimmt, die Führung in die Hand zu nehmen ... Sie kennen ihre eigene Beschränktheit nicht ... Zwar ist der menschliche Geist das höchste Produkt der Natur ..., aber das bedeutet nicht, dass die geistige Arbeit über die körperliche Arbeit herrschen muss. Der Gegensatz von geistiger und körperlicher Arbeit stammt nicht aus der Natur, sondern aus der Gesellschaft her, er ist kein wesentlicher und natürlicher Gegensatz, sondern ein künstlicher Klassengegensatz.« Pannekoek war überzeugt, dass die Massen, wenn die Bedingungen sie zum Kampf zwingen, die Eroberung der ökonomischen Macht des Kapitals selbst angehen würden. Die Arbeiterparteien hingegen wollten die Macht nur für sich selbst erringen. Für ihn war in Russland in Folge der Revolution von 1917 nur die Diktatur einer Parteibürokratie entstanden.

Pannekoeks Schriften sind ungeachtet des scheinbaren Aufgehens der Arbeiterbewegung in den bürgerlichen Staat noch heute von Bedeutung. Denn angesichts der Entstehung eines modernen Prekariats, eines ständig vorangetriebenen Sozialabbaus und eines neuen Imperialismus wird deutlich, dass der Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit nicht verschwunden ist, die Krisensymptome des Kapitalismus die alten sind, wenn sie sich auch in neuen Gewändern und unter neuen Namen zeigen. Die Schwäche der Arbeiterbewegung beruht heute jedoch nicht nur auf ihrer Abhängigkeit von reformistischen bzw. neoliberalen Parteien, sondern auch auf der zunehmenden Individualisierung der modernen Arbeitsgesellschaft. Die Zeiten großer Industriebelegschaften, die jahrelang zusammenarbeiteten und durch das gemeinsam geschaffene Arbeitsprodukt miteinander verbunden waren, sind die Ausnahme. Dies erschwert die soziale Kommunikation und entfremdet die Menschen zusehends vonein-ander. Soziale Bewegungen, die den Kampf gegen Ausbeutung und soziale Unterdrückung fortführen, müssen dem Rechnung tragen.

#ndbleibt – Aktiv werden und Aktionspaket bestellen
Egal ob Kneipen, Cafés, Festivals oder andere Versammlungsorte – wir wollen sichtbarer werden und alle erreichen, denen unabhängiger Journalismus mit Haltung wichtig ist. Wir haben ein Aktionspaket mit Stickern, Flyern, Plakaten und Buttons zusammengestellt, mit dem du losziehen kannst um selbst für deine Zeitung aktiv zu werden und sie zu unterstützen.
Zum Aktionspaket

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal
Mehr aus: