Ave Maria im Stadion

»Sing – Day of Song«

  • Lutz Debus
  • Lesedauer: 3 Min.

An jedem zweiten Samstag wird hier sowieso gesungen. Die Schlachtengesänge der Blau-Weißen sind zu hören. Längst nicht so profan, aber trotzdem massentauglich war das Repertoire, das aus geschätzten 65 000 Kehlen am Samstagabend in der Veltins-Arena zu Gehör gebracht wurde. !SING – DAY OF SONG war der wahrscheinlich eindrucksvollste Abend, den die Europäische Kulturhauptstadt RUHR.2010 in ihrem ersten halben Jahr erlebte.

Der Generalmusikdirektor der Bochumer Symphoniker, Steven Sloane, der als Dirigent nicht nur für seine Musiker, sondern für alle Gekommenen auf Großleinwänden zu sehen war, schaffte es mit einem Trick, die Menschen zum Singen zu animieren. Zunächst unterteilte er das Publikum in drei Gruppen, in Schalke-, BvB- und VfL-Bochum-Fans. Dann ließ er die ansonsten verfeindeten Gruppen gegeneinander antreten. Wer würde wohl am schönsten und lautesten das Lied »Hejo, spann den Wagen an« singen können? Das Ergebnis war beeindruckend aber auch ausgeglichen. Dann ließ Sloane das Lied als Kanon erklingen und allen Beteiligten wurde deutlich, dass diese Aufgabe nur gemeinsam statt gegeneinander erfolgreich zu erfüllen ist.

Einen solch großen Chor gab es noch nie auf dieser Welt. Deshalb wird die Veranstaltung sicherlich ins Guinness-Buch der Rekorde aufgenommen werden. Aber es ging den Machern von RUHR.2010 nicht nur um die bloße Sensation. Der Gesang als verbindende Kulturtechnik sollte den Geist eines geeinten, friedlichen Europas transportieren, so das Kalkül der Kulturhauptstadt-Veranstalter.

»Sing, bevor Du explodierst«, war dann auch die Liedzeile eines Textes der Wise Guys. Die A-Capella-Pop-Gruppe aus Köln lieferte sich mit dem Publikum ein Rede- und Antwortduell, das an alte Hippiezeiten erinnerte. Akrobatische Lautmalereien wurden von Sänger Eddi Hüneke vorgegeben und vom Publikum detailgetreu wiederholt.

Feierlich wurde es, als die auf dem Spielfeld versammelten 233 ganz unterschiedlichen Chöre Bachs »Ave Maria« anstimmten und dazu der amerikanische Jazzsänger Bobby McFerrin mit seiner Stimme die begleitenden Instrumente imitierte. Aber auch andere Klassiker standen auf dem Programm. Bei Händels Messiah bebte leicht der Untergrund, als das Halleluja erklang. Der Gefangenenchor von Nabucco von Verdi wurde nicht nur gesungen. Ein Gebärdenchor interpretierte Verdis Klassiker auf seine ganz eigene Weise. Die Mezzosopranistin Vesselina Kasarova umgarnte als Carmen den Herrn Generalmusikdirektor an seinem Pult. Höhepunkt des Abends war sicherlich das Lied »An die Freude«, von vier namhaften Opernsängern aus dem Ruhrgebiet und natürlich von allen Anwesenden intoniert. Die extra für die Kulturhauptstadt von Herbert Grönemeyer komponierte Hymne »Komm zur Ruhr« konnte ohne den Popstar hingegen nicht überzeugen.

Insgesamt zeigte der Abend eine sehr vitale Seite des Ruhrgebiets, den Chorgesang. Der Gesangsverein gehörte im Revier zum kulturellen Leben wie Fußball, Taubenzucht und Schrebergarten. Schade, dass kein einziges Arbeiterlied auf dem Programm stand. Aber das hätte wohl gegen das Ausgewogenheitsgebot der Veranstalter verstoßen. Foto: dpa

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