Blockade bleibt rechtlich ungeklärt

Völkerrecht gibt keine eindeutige Antwort

  • Roland Etzel
  • Lesedauer: 5 Min.
Seit drei Jahren leiden die 1,5 Millionen Einwohner des ohnehin sehr dicht bevölkerten und unterversorgten Gaza-Streifens unter den Folgen des israelischen Embargos. Völkerrechtler streiten über dessen Rechtmäßigkeit. EU, UN und jetzt auch die Bundesregierung fordern ein Ende aus humanitären Gründen.

Israel hält trotz scharfer internationaler Kritik an der Seeblockade des Gaza-Streifens fest. Fünf Tage nach der blutigen Erstürmung einer Hilfsflotte fing die Marine am Samstag erneut ein Schiff, die »Rachel Corrie«, mit Hilfsgütern für den abgeriegelten Küstenstreifen ab.

Nach Angaben der israelischen Armee habe sich die Besatzung der »Rachel Corrie« wiederholt der Anweisung widersetzt, vom Kurs auf den Gaza-Streifen abzudrehen. Die Marine habe deshalb ohne Gewalt die Kontrolle über den Frachter übernommen. In Aschdod sollten nun die Hilfsgüter, darunter Baumaterialien, medizinische Geräte und Schulutensilien, entladen und auf dem Landweg in den Gaza-Streifen gebracht werden.

An Bord des Frachters befanden sich nach Armeeangaben 19 Personen, darunter die irische Friedensnobelpreisträgerin Mairead Maguire und der ehemalige hohe UN-Vertreter Denis Halliday. Sie seien den Einwanderungsbehörden übergeben worden.

Israel blockiert den Gaza-Streifen zu See und an Land, seit die Palästinenserorganisation Hamas dort im Sommer 2007 die Macht übernahm und begründet das Vorgehen mit dem Schutz vor Waffenschmuggel und Attentätern. Regierungschef Netanjahu lobte das Vorgehen seiner Armee. Sein Land behalte sich weiterhin das »Recht zur Selbstverteidigung« vor.

Die internationale Free-Gaza-Bewegung, die die Hilfsaktion mitorganisierte, verurteilte die »Umleitung« des Schiffes und sprach von einer »Geiselnahme«. Die »Rachel Corrie« sollte ursprünglich Teil der internationalen Hilfsflotte sein, die israelische Marineeinheiten am Montag gewaltsam gestoppt hatten. Solidaritätskonvois für die Bewohner des von Israel blockierten Gebietes, gab es schon häufiger. Auch im Juni 2009 war ein Hilfsschiff vor Gaza abgefangen und in den israelischen Hafen Aschdod gezwungen worden.

38 Jahre nach der Eroberung des Gaza-Streifens während des Sechstagekriegs gegen Ägypten im Juni 1967 hatten sich die Israelis 2005 aus dem 378 Quadratkilometer großen Gebiet zurückgezogen und seine 21 Siedlungen geräumt. Knapp ein Jahr später griff die Hamas einen israelischen Militärstützpunkt am Rande des Gaza-Streifens an und nahm den Soldaten Gilad Schalit gefangen. Er befindet sich noch immer in den Händen der Hamas. Damit und wegen dauernder Raketenangriffe durch Palästinenser aus dem Gebiet begründet Israel seine Blockade, an der sich Ägypten beteiligt.

Nach dem Sieg bei den Parlamentswahlen übernahm die Hamas im Juni 2007 die Kontrolle in Gaza und wurde von Israel deshalb zum »feindlichen Gebiet« erklärt. Die Blockade wurde noch weiter verschärft. So dürfen auch Baumaterialien nicht mehr in den Gaza-Streifen eingeführt werden. Dies hat zur Folge, dass die meisten, bei dem israelischen Bombardement vor anderthalb Jahren zerstörten Gebäude noch nicht wiederaufgebaut werden konnten. »Rachel Corrie« hat deshalb auch 1000 Tonnen Zement an Bord. Die Einfuhr von Zement verweigert Israel mit der Begründung, damit könnten Terroristen Bunkeranlagen bauen.

Die Einfuhr von Baustoffen werde nicht pauschal, sondern ausschließlich für »konkrete Objekte« genehmigt. Dies betrifft auch zahlreiche andere zivile Güter des täglichen Bedarfs. Friedensaktivisten vieler Länder protestieren gegen derart willkürliche Auslegungen, weil sie Hunderttausende Menschen in Armut halten. Immer wieder wurde deshalb versucht, das Embargo brechen; so auch in der vergangenen Woche.

Während aber die überfallartige Kaperung der »Mavi Marmara« und anderer Schiffe des Gaza-Hilfskonvois vergangene Woche durch israelisches Militär in der Welt nahezu einhellig als unverhältnismäßig bzw. als Rechtsbruch verurteilt wurde, wird Israels Blockade gegen Gaza weniger eindeutig bewertet. UNO-Generalsekretär Ban Ki Moon beispielsweise verurteilte sie am Mittwoch als »kontraproduktiv, unhaltbar und unmoralisch«, von Unrechtmäßigkeit sprach er nicht. Wie aber sieht es damit – abseits politisch-moralischer Kategorien – aus?

Für den rechtspolitischen Sprecher der LINKEN-Bundestagsfraktion, Wolfgang Neškovic, sind hier »schwierige Fragen des Völkerrechts berührt, für die es keine eindeutigen Antworten gibt.« Bei der Blockade stehe die Frage, ob es sich um eine nach dem humanitären Völkerrecht verbotene Kollektivstrafe handele.

Von den Befürwortern der Blockade wird in letzter Zeit immer wieder auf das Handbuch von San Remo über das in bewaffneten Konflikten auf See anwendbare Völkerrecht verwiesen. Sieht man einmal von der Frage der rechtlichen Bindungswirkung dieses Dokuments und der Anwendbarkeit auf den vorliegenden Konflikt ab, so ist auch nach Anwendung der dort entwickelten Grundsätze eine Blockade verboten, wenn der Schaden für die Zivilbevölkerung im Verhältnis zu dem von der Blockade erwarteten konkreten und unmittelbaren militärischen Vorteil übermäßig groß ist. Der ehemalige israelische Botschafter in Deutschland Shimon Stein leitete am Donnerstag im Deutschlandfunk die Berechtigung des israelischen Vorgehens aus Festlegungen der Konferenz von San Remo von 1922 ab, allerdings ohne dies zu erläutern. Dazu meint Neškovic: »Auf der Konferenz von San Remo wurde Großbritannien mit der Verwaltung Palästinas beauftragt. Daraus lässt sich jedoch nichts für die heutige israelische Blockade herleiten. Allenfalls aus dem Handbuch von San Remo ließen sich rechtliche Argumentationen entnehmen. Die Konferenz und das Handbuch haben unmittelbar nichts miteinander zu tun.«

Zwar protestieren in vielen Staaten der Welt Tausende von Menschen gegen die Einkesselung der 1,5 Millionen Palästinenser in Gaza. Aber gibt es auch rechtliche Möglichkeiten, dagegen vorzugehen? Wahrscheinlich kaum. »Eine Klage vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH)«, so Neškovic, »scheidet schon deshalb aus, weil Palästina kein Staat ist und Israel sich der Zuständigkeit des IGH nicht unterworfen hat. In Betracht käme aber, dass beispielsweise die Generalversammlung der Vereinten Nationen ein Gutachten beim IGH beantragt, wie sie es auch zu den israelischen Grenzanlagen getan hat.«

Darf sich die Besatzung eines Schiffes auf Hoher See gegen Kaperung zur Wehr zu setzen? »Gegen die völkerrechtswidrige Kaperung eines Schiffes«, sagt der Richter am Bundesgerichtshof a. D. Wolfgang Neškovic, »sind Notwehrrechte erlaubt. Der genaue Inhalt und Umfang des Notwehrrechts hängt von den Einzelumständen ab.« Der Streit dürfte also auch formaljuristisch in naher Zukunft nicht beilgelegt werden können.

Grundsätzlich, so Neškovic, stelle Piraterie »eine Straftat nach § 316 c StGB dar, für die – auch wenn sie auf Hoher See begangen wird – das deutsche Strafrecht gilt.«

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