Leider hat Johann Friedrich keine Badehose... Nun habe ich ihm meine koketten rosa Schlüpfer zur Verfügung gestellt, die ich damals in Warburg kaufte, die wollen wir schwarz färben lassen. Hoffentlich geht das ohne Trauerschein.
Gertrud B. in einem Brief an ihren Mann an der Front
Johanna Richter hat eine Führung beendet. Jetzt steht sie noch unschlüssig im Raum, vor dem alten Küchentisch, der mit buntem Steingut gedeckt ist. Aus der Entfernung sieht man nicht, dass die Oberfläche des Milchkännchens rau ist, aber vorhin hat sie es in die Hand genommen, die Leute mit den Fingerspitzen über die Glasur streichen lassen, damit sie es fühlen, und von den Stromausfällen erzählt, die in den Jahren nach dem Krieg die Produktion behinderten.
Sie selbst war damals noch ein Kind. Die Stromausfälle, das Geschirr - vieles hatte sie vergessen. Vieles fiel ihr wieder ein, seit sie sich mit Geschichte beschäftigt. Vor drei Jahren konnte Johanna Richter eine SAM-Stelle bei PFLUG ergattern - PFLUG, das verbraucherfreundliche Kürzel für die »Projektgemeinschaft Frauen, Landwirtschaft, Umwelt und Gesellschaft«. In Wittenberg und Umgebung sind diese Stellen heiß begehrt. Denn einerseits hat sich herumgesprochen, dass die Arbeit bei PFLUG e.V. einen hohen Suchtfaktor aufweist - es macht unerwarteten Spaß, in der Vergangenheit zu stöbern. Andererseits ist bei einer Arbeitslosenquote von 19,2 Prozent natürlich jede »Maßnahme« von vornherein ein Geschenk des Himmels.
Vor allem, wenn man wie Johanna Richter die 50 überschritten hat. 25 Jahre, erzählt sie, sei sie Lehrausbilderin in der Textilreinigung gewesen. Nach der Wende habe sie sich in die alten Länder gewagt, dort sei sie Abteilungsleiter gewesen. Dann allerdings siegte das Heimweh...
Von der Seite hat sich eine andere Frau, die Projektchefin, genähert. »Frau Richter«, mischt sie sich ins Gespräch, »Sie waren Abteilungsleiterin. Sie wissen doch, dass ich Wert darauf lege, dass Sie das exakt benennen.« Obwohl sie freundlich spricht, klingt es streng; die Mischung muss man erst mal hinkriegen. An mich gewandt, noch immer mit Nachdruck, erklärt sie, damit ich es aufschreibe: »Frauen kommen in der Geschichte nicht vor. Wenn sie sich selbst als Leiter bezeichnen statt als das, was sie sind, nämlich Leiterinnen, buttern sie sich selbst unter. Was sie leisten, hat später nicht stattgefunden. Das macht mich wütend, das wollen wir ändern.«
Dr. Christel Panzig, 54. Zur Wendezeit an der Akademie der Landwirtschaftswissenschaften Berlin als Historikerin beschäftigt. Mit Kolleginnen und Kollegen gründete sie PFLUG e.V., zwölf Jahre sind inzwischen verstrichen. Sie und ihr Mann Dr. Klaus-Alexander, der den Vereinsvorsitz innehat, sind von den Gründern noch aktiv; man darf sie die Eltern von PFLUG e.V. nennen. Ich bin ihnen schon mehrmals begegnet, über einige ihrer Ausstellungen habe ich für die Zeitung berichtet. War »Ciu, Ciu, Ciu, Coo, Schweinsohrn gibt es im HO« im vereinigten Flachland originell, ein erstes Zugspitzchen des Erinnerns, dass Lebenslandschaften normalerweise nicht nur aus Bombenkratern bestehen, so war »Befreier - Freund - Genosse?« über fünf Jahrzehnte Alltag mit sowjetischen Truppen in Wittenberg eine mutige Exposition - bis heute wagte niemand sonst, sich dieses Themas anzunehmen. Wenn ich Panzigs nun ein drittes Mal treffe, hat das einen guten Grund: PFLUG hat sich spektakulär entwickelt. Mehr als 20 Forschungsprojekte zur Alltags- und Sozialgeschichte der vergangenen 100 Jahre, vor allem von 45 bis 90, hat der Verein bisher vorlegen können. Außerdem verdankt Wittenberg PFLUG e.V. das »Haus der Geschichte«. Damit dürften nach zwölf Jahren Einheit Panzigs die einzigen Ossis sein, die im Osten ein Museum leiten, das mehr als ein Heimatmuseum ist, von ganz Deutschland ganz zu schweigen. Ein Museum des DDR-Alltags, bundesweit einzig in seiner Art und eine Touristenattraktion: Allein in diesem Jahr strömten schon 4000 Menschen aus Ost und West in das Haus Schlossstraße 6. »Ein absoluter Besucherrekord«, schwärmt Christel Panzig überschwänglich. Dabei hört sie sich an wie die junge Frau im Reisebüro bei mir an der Ecke, die sich vorgenommen hat, mich in meinem nächsten Urlaub unbedingt nach Tunesien zu schicken. Oder wie eine Anwältin, die einen Mandanten verteidigt.
Ende der 50er Jahre hab ich in der Schulküche angefangen. Ich hatte teilweise für 285 bis 320 Kinder zu kochen. Was gekocht werden sollte, das war vorgeschrieben. Da war die Küchenkommission zuständig. Alle vier Wochen durfte sich nichts wiederholen. In der Woche musste ein Eiergericht dabei sein und ein Milchgericht. Die Kinder zahlten 55 Pfennige, ich durfte je Essen 80 Pfennige ausgeben. Den Rest zahlte der Staat dazu. Die Kinder des Kindergartens zahlten 35 beziehungsweise 50 Pfennige. Am Tag durfte ich 5 Gramm Butter und 25 Gramm Fleisch für die Kindergartenkinder, 50 für die Schulkinder verwenden. Das musste genau eingehalten werden. Als mit der LPG auch die Ferienlager aufkamen, mussten wir auch in den Ferien arbeiten. Als die Privatbauern noch waren, bekamen wir alles billiger. Mit der LPG gings los. Dann war dies nicht da, das war knapp...
Isolde W. über die Schulküche in Nudersdorf
Mit Christel Panzig durchs »Haus der Geschichte«. Im Vorangehen wirft sie den Kopf zurück, eine Bewegung wie Trotz, schon wieder ein Subtext. Laut sagt sie: »Wir wollen die Lebensleistungen der Menschen im Osten dokumentieren.« Was gäbe es daran auszusetzen? Zumal die Gästebücher bezeugen, dass die Besucher aus Ost wie West die Streifzüge in die Vergangenheit unisono als anregend und äußerst vergnüglich empfinden. Oder sollte ich sagen »obwohl«? Darf man sich freudvoll an das Leben in der Diktatur erinnern? Das Schöne ist: Man darf, man muss nicht. Man kann es halten, wie man möchte.
Der Reihe nach: Das »Haus der Geschichte« ist ein ganz normales Haus. Ein altes Wohnhaus mit Wohnungen, Namensschilder an den Türen, dahinter Flure, Küchen, Bäder, Schlafzimmer und Wohnzimmer. Authentisch im Stil der 40er, 50er, 60er, 70er oder 80er Jahre eingerichtet. Alles so wirklich, so unmittelbar, als seien die Bewohner nur kurz mal nicht da. Vielleicht sind sie arbeiten. Vielleicht gibt es im Konsum Bananen und sie müssen anstehen. Vielleicht machen sie Urlaub im Erzgebirge, am Balaton oder an der Ostsee.
Die Weingläser stehen auf dem Tisch, ach ja, dieser Rankenschliff! Der hellblaue Dederonmorgenmantel, missglückter Kulturversuch, hängt am Haken an der Badtür. Das ratternde, wackelnde Ungetüm, mit dem wir Wäsche schleuderten und das trotz Einsatz des Körpergewichts durch den ganzen Raum hüpfte, ruht über der Wanne auf einem Brett. Auf dem Wohnzimmerregal »Kultur im Heim«, »Magazin« und »Sibylle«. Der Steppke-Staubsauger mit Außenbeutel, der Fernsehapparat »Raduga«, nur mit Secam lieferbar, aber aufzurüsten mit PAL, wollte man Westen in Farbe sehen...
Es ist die Detailtreue, aus der sich das Vergnügen speist. Die Ausrufe der Überraschung, des déja vu, des Wiedererkennens: Mensch, die blau-weiß gepunkteten Plastikbecher, die hatten wir auch in unserer Küche! Und guck mal, das Muster der Übergardinen, kommt dir das nicht auch bekannt vor? Genau, das Parfüm von Sanssouci! Ovosiston, meine ersten Pillen!
Exakt arrangierter Alltag. Rekonstruiert aus einem Fundus, der in der früheren Poliklinik des Stickstoffwerkes Piesteritz, mittlerweile die Keller sprengt. Zusammengesammelt, erbeten, erbettelt, gespendet, zur Verfügung gestellt. Das Bestücken der Sammlung, glaubt Christel Panzig, sei fast ein Massensport geworden. Das Motto: Hier wird nichts weggeschmissen! Nicht das fleckige Wachstuch, nicht die Brille, nicht der Eisenbahnermantel, nicht der Nierentisch, nicht das Büttenpapier, nicht die Glasfliese, nicht das Sternradio, nicht die f6, nicht die Esda-Strümpfe, nicht das eigene, mühsame, verfluchte, wunderbare Leben.
Es ist in Wittenberg kein Geheimnis, dass Pfarrer Friedrich Schorlemmer
nicht gerade ein Freund von PFLUG e.V. ist. »Ihm gefällt nicht«, weiß Christel Panzig, »dass sich fast alle Besucherinnen und Besucher der Ausstellungen mit unserer Arbeit identifizieren. Für ihn ist das "Haus der Geschichte" eine "Kuschelecke der DDR", ein Ort, ein Hort der Nostalgie!« Panzig fragt: »Nostalgie, was ist das? Sehnsucht nach etwas, das man verklärt. Kompliziert, wie der DDR-Alltag war, gibt es da nichts zu verklären. Aber nach zwölf Jahren Vergleichen können Ostdeutsche einschätzen, dass sie sich nicht verstecken müssen. Wenn sie heute die Kontakte in "ihrem Arbeitskollektiv" vermissen, Freundschaften, die nicht der "Notgemeinschaft in der Mangelgesellschaft" entsprangen, sondern dem Mangel an Konkurrenz, so hat das mit Nostalgie nichts zu tun. Vielmehr damit, dass sie oft über Jahrzehnte, unter nicht immer leichten Bedingungen, zusammengearbeitet und etwas geleistet haben. Und wenn sie das für sich aufheben möchten, ist das ein Wert, den sie einbringen können. Schorlemmer ist anderer Meinung. Er schätzt Leute nicht, die ihm widersprechen.«
Was ist Verklärung und was nicht? Kann man das wie Blutdruck messen? Ich glaube, es gibt kein verbindliches Maß, jeder bringt sein eigenes mit. Seine Erfahrung, sein Erleben, sein Glück, sein Unglück, sein Aufbegehren, seine Feigheit, seinen Mut, seine Karriere, seinen Erfolg, sein Scheitern, seine Lieblingsbücher. Man kann inmitten des Interieurs durchaus verzückt an »früher« denken, man kann sich schaudernd abwenden. In mir weckt das Haus gemischte Gefühle. Schon das kollektive Wiedererkennen der Einrichtungs- und Gebrauchsgegenstände verweist auf die Überschaubarkeit, die Begrenztheit unserer Welt, was das Vergnügen denn doch ziemlich einschränkt. Aber brauchten wir denn mehr? Wieso konnten wir uns nicht zufrieden geben? Was war es, das uns wirklich fehlte?
Jedes Möbel- und jedes Kleidungsstück birgt eine spezielle Geschichte. Frau Richter zeigt gerade zwei Ehepaaren aus Thüringen das Flüchtlingszimmer - einen engen Raum, voll gestopft mit Betten, Waschzuber und Essecke. Sie waren uns nicht willkommen, die, denen es noch
schlechter als uns ging. Und wie spießig unsere Wohnzimmer waren, wie wir die zu kopieren versuchten, die wir »klassenmäßig« verachteten. Wie wir Schilfkolben in die Vase stellten und die Natur verkommen ließen. So erzählt manche der Geschichten: Auch wenn wir nicht schlechter als Wessis sind, toll waren wir deshalb auch nicht. Nur, dass wir das im Grunde längst wissen. Dass wir Respekt für Leute empfinden, die sich damals zur Wehr setzten, es aber nicht mehr ändern können, dass wir maulend stillhielten. Dass wir statt dessen erleichtert sind, dass uns keiner mehr Heldentum abverlangt, weil die wenigsten Menschen Helden sind.
Ich habe Gummifacharbeiterin gelernt und wurde danach in der Technischen Abteilung eingesetzt. Wir ham 300 oder 350 Mark verdient. 1957 wurde dort ne Abteilung aufgebaut, wo Gummifäden im Spritzgießverfahren hergestellt wurden, die dann zu Gummiband oder so genanntem Schlüpfergummi verarbeitet wurden. 77 wurde die Produktion nach Zeulenroda verlagert, wir kamen in den neuen Rohgummibetrieb. Das war eine völlig neu aufgebaute Produktionsstrecke, die lief über Lochkartentechnik. Ich habe von Anfang an in der Steuerzentrale gearbeitet. Ich wollte das, weils was Neues war. Man musste natürlich n bisschen für Technik übrig haben. Für mich war das eine wunderschöne Arbeit. Wir haben viel Sonderschichten gemacht, weil wir mit der Produktion den Bedarf nicht decken konnten. Das hat uns aber nicht gestört. Wir sind mit Leib und Seele sonnabends und sonntags arbeiten gegangen. Für eine Sonderschicht gabs 50 Mark extra, die nicht versteuert wurden.
Marianne H.,
Gummifacharbeiterin
Je mehr die Geschichte mit der Macht hurt, desto tadelloser der Ruf, den sie vor sich her ins Land schickt. Für uns Ossis, zumindest für viele, war sie eine Heilige. Auch diese Madonna, die unbefleckte
Mutter aller Klassenkämpfe, stürzte kopfüber vom Altar. Heute wissen wir es besser: Geschichte gehört dem, der sie schreibt. Und klar ist: In der DDR haben Panzigs mitgeschrieben.
Dass sie heute Alltagsgeschichte erforschen, ist eine persönliche Konsequenz. Alltagsgeschichte ist inoffiziell: Geschichte jenseits der Könige, der Bullen, der Kriegserklärungen, der Jahrestage, Parteikonferenzen. Es ist die Geschichte von unten: des sich Einrichtens, Durchboxens, Überlebens, Widerstehens. Die DDR war kaum interessiert: nicht an den bei Kriegsende von Sowjetsoldaten missbrauchten Frauen, nicht an den Facharbeiterinnen, die morgens um sechs die Schicht anfingen, davor den Kindern noch Stullen schmierten und gar keine Zeit hatten, sich im Dederonmorgenmantel an den Frühstückstisch zu setzen, nicht an den pfiffigen Rezepten, die Paprikaschoten durch Kohl ersetzten. Der Vorteil von Alltagsgeschichte: Sie wird von den Akteuren geschrieben.
Was nicht heißt, dass deren Erinnerungen schon das sind, was man Wahrheit nennt. Denn wie sie erlebten und was sie erinnern, hängt zum Beispiel davon ab, ob sie in Wittenberg oder Berlin wohnten, Trabi oder Lada fuhren, Produktionsarbeiter waren oder im Parteiapparat, Kinder großzogen oder nicht, eine Neubauwohnung bekamen oder im zweiten Hinterhaus mit Ofenheizung hängen blieben. Wahrheit setzt hier Vielfalt voraus: PFLUG e.V. kann mittlerweile auf ein Archiv mit mehr als 1000 Lebensgeschichten und Interviews zurückgreifen. Der Elektroingenieur, die Lehrerin, die Sekretärin, die Organistin, die Friseuse, der Uhrmacher, die Hebamme, der Tischlermeister, der Müllfahrer, die Hebamme, der Arzt berichten - wie ein Puzzle können Panzigs Sittenbilder zu Stichworten wie Kindheit, Schulzeit, Berufstätigkeit, Nachbarschaft, Wohnen zusammensetzen. Ein Schatz: ihr riesiges Fotoarchiv. Familienbilder, Taufe, Hochzeit, Einschulung, Kommunion, Jugendweihe, Malern mit der Hausgemeinschaft, Ernte, Feuerwehrübungen, Sportfeste, Brigadefeiern. Ich teste das Stichwort »Kriegsweihnacht«: Als ich jüngst ein Foto suchte, fand sich keins in der Redaktion; auch das Deutsche Historische Museum hatte nur drei Bilder zu bieten, darunter zwei Propagandaaufnahmen - Panzigs können auf Anhieb 20 rausziehen.
»Wir haben ein Recht auf Erinnerung!«, reibt sich Christel Panzig an denen, die Rückschau auf gelebtes Leben im Osten noch immer in Frage stellen. Dieses Recht stützen Land und Bund mit der Finanzierung von 34 SAM-Stellen. Das ist eine ganze Menge.
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