Fakten schaffen im Sommerloch

Trotz aller Proteste soll der Abriss am Stuttgarter Hauptbahnhof am 1. August beginnen – viel eher als zunächst geplant

  • Gesine Kulcke, Stuttgart
  • Lesedauer: 5 Min.
Das Projekt zum Umbau des Stuttgarter Hauptbahnhofs – Stuttgart 21 – wird von vielen Einwohnern der Stadt abgelehnt. Jetzt drücken die Verfechter des Milliardenprojektes aufs Tempo – mitten in der Urlaubszeit.

Auf der Demonstration am Montag hieß es noch, im August werde man sich eine Sommerpause gönnen und sich erst wieder im September am Nordausgang des Stuttgarter Hauptbahnhofs versammeln. Doch schon einen Tag später warnte Thomas Renkenberger: Wer noch könne, solle seinen Urlaub stornieren und in der Stadt bleiben. Renkenberger ist einer von aktuell knapp 17 000 Parkschützern, die sich auf www.parkschuetzer.de registriert haben, weil im Rahmen des Hauptbahnhof-Umbaus in Stuttgart auch 282 alte Bäume im Schlosspark gefällt werden sollen. Das umstrittene Projekt sieht vor, den Kopfbahnhof um 90 Grad zu drehen, unter die Erde zu legen und in einen Durchgangsbahnhof zu verwandeln.

In der vergangenen Woche war in der Stuttgarter Zeitung noch zu lesen, vor 2011 werde kein Baum fallen. Doch jetzt hat der Vize-Landtagspräsident und Sprecher des Bahnprojekts, Wolfgang Drexler (SPD), überraschend angekündigt, die Seitenflügel des alten Bahnhofs würden bereits ab dem 1. August abgerissen.

Geschütztes Denkmal

Dieses Vorgehen hat System. Der Enkel des Bahnhof-Architekten Paul Bonatz, der den historischen Bahnhof bewahren will, wartet noch immer auf einen Termin für sein Berufungsverfahren beim Oberlandesgericht Stuttgart. Peter Dübbers versuchte bereits mit einer Urheberrechtsklage vor dem Landgericht den für das Bahnprojekt geplanten Abriss der Seitenflügel des denkmalgeschützten Komplexes zu verhindern. Doch die Klage wurde abgelehnt. Die Modernisierungsinteressen der Bahn hätten Vorrang, so die Richter. Ursprünglich war der Abriss der Seitenflügel nicht vor November vorgesehen. Doch Peter Dübbers glaubt, dass jetzt möglichst schnell Fakten geschaffen werden sollen, um die ständig wiederholte Aussage zu zementieren, das Bahnprojekt sei unumkehrbar.

Auf der Straße scheint daran kaum jemand zu glauben. Überall leuchten grüne und gelbe Aufkleber gegen Stuttgart 21. Angeblich gibt es für das Entfernen der Aufkleber inzwischen ein kleines Honorar. Wolfgang Drexler und seine Partner investieren – auch in den Dialog. 550 000 Euro haben sie bereits für die im Juni gestartete Kommunikationskampagne »Dialog 21« ausgegeben.

»Wir sind diskussionsbereit«, erklärt Drexler. Die Argumente der Stuttgart 21-Gegner sollen ernst genommen werden. Auf großen Plakaten ist zu lesen, dass für das Bahnprojekt mitten in der Stadt eine Großbaustelle entsteht und 282 Bäume gefällt werden sollen. Verschwiegen wird auch nicht, dass die Mineralquellen der Stadt gefährdet sind. Aber ohne Baustelle könne in einer Großstadt keine Zukunft entstehen, für die 282 Bäume würden 293 neue gepflanzt, und die Mineralquellen würden zum Schutz ständig überwacht.

Seltsame Zahlenspiele

»Was ist das für ein seltsamer Dialog?«, fragt sich Parkschützer Charles Büttner. »Hier sollen mehr als 200 Bäume, die zwei Weltkriege überlebt haben, ohne große Not gefällt werden. Und das in einem Stadtgebiet mit der höchsten Luftbelastung. Zugleich können Schulen nicht renoviert werden, Kita-Plätze fehlen.« Tatsächlich müssten 756 000 junge Bäume gepflanzt werden, wenn die Luft in Stuttgart nicht schlechter werden soll als sie heute ist, und man davon ausgeht, dass eine große, 100 Jahre alte Buche etwa 2300 Gramm Kohlendioxid pro Stunde aus der Luft ziehen und 1700 Gramm Sauerstoff abgeben kann.

Es wird klein geredet und gespalten. Am vergangenen Wochenende haben Tausende mit einem Festival im Schlosspark gegen Stuttgart 21 protestiert. Genaue Zahlen gibt es nicht. Die Polizei behauptet, mehr als 5000 Menschen seien es nicht gewesen. Der Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) sagt, nach einer Blockade vor dem Hauptbahnhof seien etwa 15 000 Menschen in den Schlossgarten gegangen. Und während des Nachmittags seien weitere 5000 gekommen, um friedlich zu protestieren. Etliche Aktivisten haben schon vor drei Wochen 20 Zelte im Schlosspark aufgestellt. Die Esslinger Zeitung schrieb daraufhin: »Protest gegen Stuttgart 21 wird schärfer. Beleidigungen, Sachbeschädigungen, tätliche Angriffe – Polizei entfernt im Schlossgarten unerlaubt aufgestellte Campingzelte.«

Tatsächlich ist das Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 bodenständig. Neben dem BUND, den Grünen und dem Bündnis SÖS (Stuttgart Ökologisch Sozial) sind auch der Verkehrsclub Deutschland, ProBahn Baden-Württemberg und das Architekten-Forum dabei. Den Ökonomen Prof. Dr. Rudolf Hickel von der Universität Bremen wundert diese Breite nicht. Die Bundesregierung will in den kommenden Jahren 82 Milliarden Euro einsparen, vor allem bei den sozial Schwächeren. »Das ist ein Hohn gegen die Finanzierung dieses Projekts.«

4,1 Milliarden Euro soll der neue Bahnhof kosten, behauptet der Bahnchef Rüdiger Grube. Doch als er vor acht Monaten eineinhalb Stunden mit dem Chefredakteur der Stuttgarter Zeitung plauderte, erklärte er: »Mehr als 4,5 Milliarden Euro teuer dürfe Stuttgart 21 nicht werden.« Eine andere Summe werde er nie akzeptieren, schließlich sei die Bahn mit 15,9 Milliarden verschuldet.

Doch der Bundesrechnungshof legte bereits 2008 eine Kostenschätzung von 5,3 Milliarden vor, und das Münchener Büro Vieregg & Rössler, das auch die Kosten für den Transrapid ermittelt hat, rechnet mit 6,3 Milliarden.

54 Prozent dagegen

Auf Bundesebene sorgen sich angesichts knapper Kassen inzwischen alle um die zukünftige Finanzierung von Verkehr und Infrastruktur, sagt der grüne Sprecher des Bundesverkehrsausschusses Winfried Hermann. Die Landesvorsitzende vom BUND, Dr. Brigitte Dahlbender, schlägt ganz konkret vor, in die Rheintalbahn, in die Neubaustrecke nach Ulm und in die Strecke zwischen Mannheim und Frankfurt zu investieren – und nicht in Stuttgart 21. »Die Bürgerinnen und Bürger in ganz Baden-Württemberg sind in der Mehrzahl gegen Stuttgart 21«, sagt sie.

Tatsächlich hat Infratest dimap bei der Stuttgarter Kommunalwahl 2009 ermittelt, dass zumindest in Stuttgart 54 Prozent der Wähler gegen das Bahnprojekt sind. Ob Brigitte Dahlbender recht hat und landesweit eine Mehrheit gegen Stuttgart 21 ist, wird sich bei der Landtagswahl im kommenden März zeigen. Immerhin haben es bei der vergangenen Landtagswahl 5,4 der 7,5 Millionen wahlberechtigten Bürger abgelehnt, der CDU oder der FDP ihre Stimme zu geben.

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