Es geht überhaupt nicht um »Semiten«

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Zur Debatte »Wie soll sich die Linke zum Nahost-Konflikt verhalten?« (ND vom 3.5.):
Die Ideologen spekulieren aufs Vergessen, erklärt Pfarrer Siegfried Nenke und setzt sich mit der Frage auseinander, ob Kritik an Scharons »Staats-Zionismus« gleich Antisemitismus wäre, denn dann sei die Kritik am Stalinismus ja wohl Antirussismus. Das mögen zwar für Fachleute interessante semantische Erwägungen sein, aber den Kern der Vorgänge zwischen israelischen Haus-Zerstörern und palästinensischen Selbstmord-Attentätern beeinflussen oder erklären solche Definitionsversuche nicht. Sayan, weist in der gleichen Diskussion darauf hin, dass zu viele Menschen schweigen, wenn Arafats Polizei den Jugendlichen mit den Selbstmordgürteln applaudiert. Geschwiegen wird aber auch über die elende Lage, in die Palästinenser gedrängt wurden. Das Mandat für Israel ging ja auf Kosten palästinensischen Bodens; Israelis, aus ihren Heimatländern verjagt und überlebend, siedeln auf dem Boden der nun verjagten bisherigen Bewohner. Das konnte nicht gut gehen, und die Lage tendiert seit Jahrzehnten zwischen bedrohtem Frieden und schrecklichen Massakern - ohne dass hier die Zahl der Opfer oder die Methoden, die sie zu Opfern machten, gegeneinander aufgerechnet werden sollen. Linke, in Deutschland besonders, scheuen den Begriff »Antisemitismus«, fürchten, des Antisemitismus bezichtigt zu werden, wenn sie Scharons unerbittliche Militärpolitik gegen die Palästinenser beschreiben wollen. Zu viel Entsetzliches ist ja von Deutschen unter diesem Motto verübt worden. Aber es geht ja überhaupt nicht um »Semiten«, was ja Juden wie Araber benennt. Es geht um Menschenwürde für alle Beteiligten. Und eben dazu schweigen zu viele - auch unter den Linken. Vor einiger Zeit wurden auf dem Berliner Wittenbergplatz die Namen der ermordeten Juden verlesen; stundenlang Namen unserer - auch meiner - Mitmenschen. Einige Neugierige kamen vorbei und pöbelten die Vorlesenden und ihre Zuhörer an. Es gab keinen Aufschrei der Empörung, man konnte kein Gespür für Solidarität mit den Überlebenden der Ermordeten ausmachen. Und genauso wenig gibt es genügend Solidarität mit den Palästinensern, die aus ihren Häusern, Schulen oder Krankenhäusern herausgeschossen wurden. Ursachen und Wirkungen werden nicht erkannt, es wird Mord und Totschlag befördert. War und ist nicht Solidarität mit allen, die leiden, hungern, fliehen oder sterben, stets Ausdruck linker Gesinnung gewesen? Hat nicht Solidarität dieser Art in Lagern, im KZ oder Exil - lebensgefährlich, wie sie oft war - manchen zum Überleben verholfen? Seit Jahrzehnten schreibe ich über diese großmäuligen oder aber stummen, tatenlosen Glotzer und Wegseher, die nur schwätzen und die Schultern zucken, wenn sie auftreten sollten. Da wurden Bänke beschmiert »Nicht für Juden«, da wurden Möbel und ganze Geschäfte »arisiert«, da wurden und werden zynische Bemerkungen über Farbige belacht und nicht etwa zurückgewiesen. Wer Hitlers Geburtstag öffentlich feiert und diesen Verbrechern huldigt, wird nicht eingesperrt, wer Farbige beleidigt, fügt sich ins Straßenbild ein. Haben die Großväter oder Väter ihren Kindern nicht erzählt, wie tödlich Rassenhass war? Wie lange ist es her, dass Parteigruppen linker Gesinnung über jenen gefährlichen Weg vom gegenseitigen Rassenhass bis zum Massaker diskutiert haben - mit der Absicht, Gemeinsamkeit zu erreichen, ein friedliches Miteinanderleben aller Kontrahenten. Immer öfter höre ich von Leuten, die aus Deutschland auswandern wollen, weil sie die zunehmend militante Atmosphäre nicht ertragen. Seit einem halben Jahrhundert schreibe und spreche ich über diese Fragen. Ich sah Auschwitz, das Warschauer Ghetto, das Ghetto von Lodz und die Felder von Chelmno, wo die Vergasten - auch meine Angehörigen - untergepflügt wurden. Wer davon nichts weiß oder erst jetzt davon erfährt, sollte sich zumindest nun Gedanken über Lösungsvorschläge machen. Die Beurteilung der Vorgänge in Israel ist von der deutschen Vergangenheit - die man nie vergessen darf - nicht zu trennen. Die Lehre heißt:: Menschen unterschiedlicher Erfahrung, Lebensweise oder kultureller Herkunft müssen miteinander leben können, wenn sie nicht aneinander zu Grunde gehen wollen. Da hat die Linke - was immer sie sonst voneinander trennt - eine Jahrhundertaufgabe. Sie müsste deutlicher zeigen, dass sie sich dessen bewusst ist. Hans Jacobus Berlin
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