English Theatre

Das Schweigen brechen

  • Anouk Meyer
  • Lesedauer: 3 Min.

Inwieweit prägt das Grauen von Nazi-Regime und Holocaust bis heute unsere persönliche Geschichte und die unserer Familie? Dieser Frage geht ein außergewöhnliches Theaterprojekt unter der Regie des deutschen Regisseurs Andreas Robertz und seines mexikanischen Kollegen Mario Golden nach. Das »Intimate Relations Project« verbindet zwei Inszenierungen, in denen fünf deutsche und vier amerikanisch-jüdische Frauen die Strukturen ihrer eigenen Familien hinterfragen und dabei tief in der Vergangenheit schürfen.

Seit 2007 arbeiten die beiden Produzenten und Regisseure an dem Projekt. Damals gründeten sie ein Ensemble mit deutschen Schauspielerinnen – Nachkommen von Tätern im Nazi-Regime – und baten sie, in ihren Familien zu recherchieren. Sechs Monate lang sprachen die Frauen zwischen 20 und 50 Jahren mit Familienangehörigen, blätterten Familienalben und stießen sowohl auf Schweigen als auch auf zögerliche Offenheit. Aus dem gesammelten Material entstanden improvisierte Texte, die Autorin Beate Haeckl und Dramaturgin Barbara Kastner behutsam zu dem Theaterstück »Lunas Armband« zusammenfügten.

2009 wiederholte sich der Prozess in New York, wo Robertz und Golden das Schwesternprojekt mit vier amerikanisch-jüdischen Schauspielerinnen gründeten, in deren Familien der Holocaust bis heute tiefe Wunden hinterlassen hat. Hier begleiteten die Autorin Robin Rice Lichtig und die Choreografin Nancy Ferragallo den Prozess, aus dem die szenische Lesung »Searching for a New Sun« hervorging.

»Die Kernfrage war, inwieweit die Vergangenheit die Strukturen in den Familien prägt«, erläutert Tine Otte, Kultur- und Sozialwissenschaftlerin aus Hamburg und im deutschen Stück die Lehrerin, die ihre Schüler alle Jahre wieder mit der Geschichte des »Dritten Reichs« traktiert. Ja, auch der durch zahllose Geschichtswiederholungen erzeugte Widerwille ist Thema in »Lunas Armband«, ebenso die Problematik dieser rein intellektuellen Aufarbeitung der Vergangenheit. Das Theaterstück »ermöglicht eine andere Art der Selbstreflexion«, freut sich Schauspielerin Beate Adele Bernard, deren Mutter mit der damals Vierjährigen 1982 aus Polen nach Deutschland übersiedelte.

Die Chance, einen ganz persönlichen und sehr emotionalen Bezug zur eigenen Geschichte herzustellen, übte auf alle Darstellerinnen einen besonderen Reiz aus. Teile der deutschen Inszenierung sind dadurch etwas gefühls- und textlastig geraten, wirkten zumindest bei der kurzen Pressevorführung wie ein Mix aus Podiumsdiskussion und Gruppentherapie – doch es gibt auch eine Rahmenhandlung: »Lunas Armband« entpuppt sich als Familienerbstück, das den Blick freigibt auf Ausschnitte der Vergangenheit und schließlich eine lange verschwiegene, jüdisch-deutsche Liebesgeschichte enthüllt. Im New Yorker Stück »Searching for a New Sun« versuchen vier jüdische Frauen das Schweigen einer Holocaust-Überlebenden zu durchbrechen. 2011 sollen die beiden Inszenierungen in New York vorgestellt werden.

»Lunas Armband« 18.-22., 26.-28.8. Jüdisches Waisenhaus, Berliner Str. 120, 29.8. Abschlussimprovisation; Dialogabend 24.8., »Searching for a New Sun« 25.8., English Theatre, Fidicinstr. 40, Kreuzberg, alles 20 Uhr. Infos: www.intimaterelationsproject.com

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