Der Erdkreis ging nicht unter

Vor 1600 Jahren eroberten die Westgoten unter Alarich Rom

  • Ronald Sprafke
  • Lesedauer: 5 Min.

»Erobert wird die Stadt, die den ganzen Erdkreis eroberte ... Wehe, der Erdkreis bricht zusammen«, heißt es bei Hieronymus (Briefe, 127,12; 128,4). Was war der Anlass für diese Klage? Alarich, König der Westgoten, stand im August 410 mit seinem Heer vor Rom.

Es war ein langer Weg, der die Westgoten vor die Tore der »Ewigen Stadt« geführt hatte. Seit dem 3. Jahrhundert verwüsteten die Goten fast jährlich weite Landstriche des Römischen Reiches in Kleinasien und auf dem Balkan, mussten aber auch schwere Niederlagen einstecken. Ende des 3. Jahrhunderts kam es zur Spaltung in Ost- und Westgoten. Letztere drangen im 4. Jahrhundert immer wieder über die Donau nach Mösien und Thrakien vor. Dann ertönte der Entsetzensschrei: »Die Hunnen kommen!« Dieses Volk aus den Steppen zwischen Don und Wolga hatte im Jahr 375 das Ostgotenreich (in der heutigen Ukraine) überrannt. Bei ihrem Zuge gen Westen drängten sie andere Stämme vor sich her und lösten die sogenannte Völkerwanderung aus. Ein Teil der Westgoten zog sich in die südlichen Karpaten zurück. Fritigern dagegen, ein arianischer Christ, ging über die untere Donau und erhielt von Rom Land in Thrakien zugewiesen. Doch eine Getreideknappheit unter den neuen Siedlern führte zum Krieg. 378 kam es vor Adrianopel (Edirne) zur Schlacht. Die Römer erlitten eine verheerende Niederlage, Kaiser Valens kam um. Erst Theodosius I. konnte die Lage stabilisieren. 382 schloss er einen Friedensvertrag, Rom anerkannte die Westgoten als Föderaten und überließ ihnen in Thrakien Land. Dafür mussten sie dem Kaiser Truppen stellen. Dieser Föderatenvertrag galt später als Muster für ähnliche Verträge mit germanischen Stämmen.

Nach dem Tode des Theodosius 395 erfolgte die Teilung des Imperiums in zwei selbstständige Reiche mit den rivalisierenden Kaisern Honorius im Westen und Arcadius im Osten. Im Winter drangen die Hunnen über die Donau in das Gebiet der Westgoten ein, die unter ihrem neuen Anführer Alarich Griechenland besetzten. Athen kaufte sich von einer Plünderung frei. Der oberste Heermeister von Westrom, Stilicho, ein Vandale von Geburt, wollte indes nicht klein beigeben. Er drängte 397 Alarich nach Norden zurück. Um den Westgoten bemühte sich nun Ostrom; 399 wurde ein Vertrag geschlossen, der Alarich zum Heermeister in Illyrien machte und ihm dort Siedlungsland genehmigte.

Nicht lange, bereits 401, trieb es Alarich nach Norditalien. Kaiser Honorius fühlte sich in seiner Residenzstadt Mailand nicht mehr sicher und zog nach Ravenna um. Stilicho beorderte in Britannien und am Rhein stehende Truppen nach Italien, eine folgenschwere Entscheidung. Er konnte zwar Alarich zur Aufgabe der Belagerung von Mailand zwingen und ihn in mehreren Schlachten schlagen, dafür aber durchbrachen in der Silvesternacht 406 Vandalen, Alanen und Sueben die ungeschützten Grenzbefestigungen am Rhein und drangen bis nach Spanien vor.

Alarich nutzte die Gunst der Lage und forderte 408 von Westrom 4000 Pfund Gold für militärische Dienste. Roms Senat widersetzte sich zunächst dieser Forderung. Stilicho jedoch suchte den Kompromiss. Daraufhin wurde er am Kaiserhof des Verrats bezichtigt und hingerichtet. Für Alarich war dies eine Einladung, nach Rom zu ziehen. Nur mit einem hohen Lösegeld konnte sich die Stadt von der Belagerung freikaufen.

Die Forderungen Alarchis an Honorius wurden jedoch immer dreister. Der Gotenkönig verlangte jetzt für sich die Ernennung zum Obersten Heermeister und für seine »Brüder und Schwestern« Siedlungsrechte zwischen Adria, Po und Donau. Honorius versuchte die Verhandlungen zu verschleppen, aus Strafe belagerte Alarich Rom erneut. Nachdem weitere Verhandlungen scheiterten, griff er Rom zum dritten Mal an.

Am 24. August 410 fiel die »Ewige Stadt«. Drei Tage lang wurde sie geplündert. Die Beute war erheblich, die Zerstörungen in der Stadt sollen sich in Grenzen gehalten haben. Dennoch machte sich Panik breit. Dabei verfolgte Alarich ebensowenig wie zuvor ins Reichsgebiet eingefallene Germanen den Sturz des Imperiums oder gar die Beseitigung der politischen und sozialen Ordnung. Die Belagerungen von Rom waren Mittel zum Zweck. In erster Linie sollten sie den Kaiser an den Verhandlungstisch zwingen und den Forderungen der Barbaren größeren Nachdruck verschaffen. Als dies nicht gelang, wurde Rom gestürmt.

Warum aber machte der Fall Roms unter Alarich auf die Zeitgenossen einen so gewaltigen Eindruck? »Unsere berühmte Stadt, das Haupt des römischen Reiches, fiel einer einzigen Feuersbrunst zum Opfer«, klagte im fernen Bethlehem der bereits eingangs zitierte Hieronymus (Briefe 128,5). Aber Rom war nicht mehr die Hauptstadt des Reiches. Diokletian hatte Mailand 286 zur Hauptstadt gemacht. Außerdem gab es seit 330 im Osten ein »Neues Rom«: Konstantinopel. Nein, Rom war nicht mehr das Machtzentrum, zweifelsohne aber ein Machtsymbol. Schon die Niederlage vor Adrianopel hatte zu erregten Debatten geführt. Ammianus Marcellinus vergleicht sie gar mit der für Rom katastrophalen Niederlage bei Cannae 216 v. Chr. gegen die Karthager unter Hannibal. Nun aber war seit 387 v.Chr. (als Gallier Rom eroberten) die »Ewige Stadt« zum ersten Mal wieder in den Händen der Barbaren.

Ein Symbol war gefallen, an dem sich die politischen und religiösen Parteien reiben konnten. Die Heiden lästerten, der Christengott hätte Rom nicht zu beschützen vermocht. Der griechische Historiker Zosimos (2. Hälfte 5. Jahrhunderts) erklärt den Fall Roms als Strafe für die Abkehr vom alten römischen Götterglauben. Augustinus (354-430), Bischof in Hippo Regia bei Karthago, meinte wiederum: Irdische Reiche seien nichts Beständiges, deren Untergang keine Katastrophe. Nur die Kirche, die auf Erden das Reich Gottes repräsentiere, währe ewig.

Aufschlussreich ist ein Vergleich mit den Reaktionen der Zeugen eines ähnlichen, späteren Ereignisses: Im Mai 455 zogen die Truppen des Vandalen-Königs Geiserich in Rom ein, plünderten und brandschatzten die Stadt zwei Wochen lang. Doch dieses Ereignis fand bedeutend weniger Beachtung als die Eroberung Roms 45 Jahre zuvor. Denn inzwischen war die einstige Vorstellung von der Roma aeterna, der Ewigkeit Roms, dem Ewigkeitsanspruch der katholischen Kirche gewichen.

410 ging der Erdkreis nicht unter, Kaiser Honorius regierte weiter – in Ravenna. Und Alarich zog mit seinem Heer und reicher Beute weiter, nach Süditalien.

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