Unter den Opfern sind auch Täter

Äußerung der Kulturministerin zu Speziallager Sachsenhausen nicht klar genug

Mit einem Gottesdienst und einer Feier soll am heutigen Sonnabend in der Gedenkstätte Sachsenhausen der Opfer des sowjetischen Speziallagers gedacht werden. Anlass sei der 65. Jahrestag der Verlegung des Speziallagers Nr. 7 von Weesow nach Sachsenhausen, teilte das Kulturministerium mit. Kulturministerin Martina Münch (SPD) werde an das Schicksal von Julius Scherff erinnern. Den Gewerkschafter und Sozialdemokraten hatten die Faschisten ins KZ Sachsenhausen gesperrt. Im Juni 1946 verhaftete ihn dann der sowjetische Geheimdienst NKWD und brachte ihn erneut nach Sachsenhausen, wo er ein knappes Jahr später an Tuberkulose starb.

»Julius Scherff ist einer der mindestens 12 000 Toten des Speziallagers«, sagt Münch. »Jedes einzelne Opfer steht für das Unrecht und das Leid, das Menschen erdulden mussten und für die Verbrechen, die an diesem Ort verübt wurden.« Die Ministerin fügt hinzu: »Ich habe große Hochachtung vor all denen, die in Sachsenhausen und anderen Lagern gelitten haben.«

Derartig pauschale Formulierungen rufen natürlich Widerspruch hervor. Es werde hier außer Acht gelassen, dass auch eine ganze Reihe von Nazi- und Kriegsverbrechern in den Speziallagern gesessen haben, erinnert Hans Coppi, Vorsitzender der Berliner Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten (VVN-BdA). Man müsse auch sehen, dass es ohne die faschistischen Konzentrationslager und den von Hitlerdeutschland geführten Vernichtungskrieg keine sowjetischen Speziallager gegeben hätte.

»Man kann sich nicht undifferenziert auf alle Opfer beziehen«, findet Marcus Pilarski vom Vorstand der Brandenburger VVN-BdA. Natürlich habe es Opfer wie den Sozialdemokraten Scherff gegeben und es sei gut, wenn an diese erinnert wird. Das viele »Unschuldige nach 1945 ins Räderwerk« des NKWD gerieten, müsse man heute kritisch betrachten. »Doch wenn die Grenze verwischt werden und nicht mehr zwischen Opfern und Tätern unterschieden wird, dann ist das für mich nicht nachvollziehbar.«

»In den Speziallagern waren sowohl Schuldige als auch Unschuldige interniert«, reagiert das Kulturministerium. Es gelte, dass die Bedingungen dort »nicht als menschlich anzusehen sind und die Häftlinge somit Opfer der Haftbedingungen waren, auch wenn dabei über ihre individuelle Schuld nicht hinweggesehen werden sollte«. Das Ministerium stellt klar: »Eine öffentliche Ehrung ehemaliger Täter ist abzulehnen.«

Ein Zeitzeuge hat einmal geschätzt, dass 80 Prozent der Häftlinge im Speziallager Sachsenhausen von ihrer Einstellung her Nazis waren. Es gibt einige Anhaltspunkte: Von den 17 000 Häftlingen, die ein sowjetisches Militärtribunal verurteilt hatte, waren 17 Prozent Nazi-Belastete. 30 000 Menschen sind aufgrund des Potsdamer Abkommens ohne Gerichtsverhandlung interniert worden. Bei ihnen lag die Zahl der NSDAP-Mitglieder bei über 50 Prozent.

Wie hoch der Anteil der ausgewiesenen Nazi-Verbrecher unter den 60 000 Häftlingen war, ist jedoch bis heute nicht ermittelt. »Die Frage, die uns auch auf den Nägeln brennt, harrt noch der weiteren Erforschung, die sehr aufwändig sein wird«, verrät Horst Seferens, Sprecher der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten.

Bekannt sind einzelne Schicksale. So saßen im Speziallager Sachsenhausen KZ-Aufseherinnen aus Ravensbrück wie Margot Pietzner. Nach Sachsenhausen kam auch Dr. Hans Heinze, vormals Chefarzt der Nervenheilanstalt in Brandenburg-Görden. Der Psychiater zählte zu den Schlüsselfiguren der Kindereuthanasie in der Nazizeit.

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