Vom drallen Aschenputtel zur Primadonna

Steckbrief – Einer war’s (156)*

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 4 Min.
Vom drallen Aschenputtel zur Primadonna

Für drei Gewinner dieser Folge stellt der Verlag dietz berlin das Buch »Du musst leben! Kinder des Krieges. Kinder des Holocaust« zur Verfügung.

Der Philosoph, nach dem wir letztes Mal fragten, war:

Ludwig Wittgenstein.

Gewonnen haben:

Renate Müßig, Plauen; Eva-Maria Ruhm, Greifswald; Sabine Wilke, Leipzig.

Einsendeschluss: 24. September (Poststempel)

Sie wurde in New York als Tochter eines europäischen Einwanderers geboren, der im Stadtteil Manhattan eine Apotheke besaß. Als sie acht Jahre alt war, erhielt sie Klavier- und Gesangsunterricht. Und obwohl ihr der Zwang zum Üben anfangs missfiel, fand sie mit der Zeit immer mehr Gefallen an der klassischen Musik.

Nach der Scheidung ihrer Eltern ging sie gemeinsam mit ihrer Mutter nach Europa. Hier bewarb sie sich am Konservatorium bei einem berühmten Gesangslehrer. »Einfach lächerlich, dass so ein Mädchen Sängerin werden will«, fluchte dieser. Sie sei damals wahrlich groß und drall gewesen und habe eine Brille mit dicken Gläsern getragen, erzählte sie später gern: »Mein ganzes Auftreten wirkte hässlich.«

Nach außen hin gab sie sich häufig schüchtern. Doch sie hatte einen starken Willen und konnte so bereits mit 15 ihr Debüt auf der Bühne feiern. Immer wieder gelang es ihr in der Folge, mit künstlerischer Meisterschaft ihr Publikum zu begeistern. Während eines Auftritts in Verona lernte sie einen italienischen Fabrikanten kennen, der ein großer Musikliebhaber war. Die beiden heirateten, und sie nahm die italienische Staatsbürgerschaft an. Um des Erfolgs willen veränderte sie nachhaltig ihr Aussehen und verwandelte sich innerhalb kurzer Zeit in eine fragile dunkle Schönheit, die von zahlreichen Männern begehrt wurde. »Sie ist eine Frau, in gewisser Hinsicht die modernste aller Frauen«, schwärmte der italienische Regisseur Pier Paolo Pasolini. »Aber in ihr lebt eine Frau der Antike, geheimnisvoll und magisch, deren Empfindungen einen unglaublichen inneren Konflikt bei ihr auslösen.«

Es gab kaum eine Rolle, in der sie fortan nicht brillierte. Sie war Tosca, Medea, Lady Macbeth, Madame Butterfly, Norma, Lucia. Als sie einmal in London gastierte, kaufte ein schwerreicher Verehrer im Vorfeld sämtliche Karten auf, verteilte sie an seine Freunde und veranstaltete nach dem Konzert eine mondäne Party. Auch sie und ihr Mann, der zugleich ihr Manager war, zählten zu den Gästen. Wie Augenzeugen später der Boulevardpresse berichteten, sei sie während dieser Nacht ihrem neuen Verehrer näher gekommen, von dem sie nach ihrer Scheidung ein Kind erwartete. Sie brachte einen Sohn zur Welt, der aber am Tag der Geburt starb. So zumindest lautet ein Gerücht, das bis heute kolportiert wird. Ihre Hoffnungen auf ein neues Eheglück erfüllten sich indes nicht. Denn der von ihr geliebte Mann gab einer anderen prominenten Frau das Jawort.

Von der Liebe enttäuscht und vom Leben erschöpft, zog sie sich zeitweilig von der Bühne zurück. Nicht aber von der Kunst. Mit 46 Jahren wechselte sie ins Schauspielfach und übernahm in Pasolinis Film »Medea« die Hauptrolle. Der in der Presse groß angekündigte Streifen wurde jedoch ein kommerzieller Reinfall. Sie ging daraufhin nach New York und arbeitete an der Juilliard School als Musikpädagogin. So richtig glücklich war sie mit ihrem neuen Job nicht, denn ihr fehlten dafür sowohl die Ausdauer als auch das didaktische Einfühlungsvermögen. Zusammen mit einem früheren musikalischen Partner plante sie daher ein Comeback als Sängerin. Die beiden Künstler brachen zu einer Welttournee auf, die mit einem Konzert im japanischen Sapporo endete. Dank ihrer unvergleichlichen Bühnenpräsenz feierte sie einige beachtliche Erfolge. Dennoch gelang es ihr nicht, an ihre früheren Triumphe anzuknüpfen.

Sie war darüber so verbittert, dass sie auf weitere öffentliche Auftritte verzichtete. Stattdessen gab sie Gesangsunterricht in Paris, wo sie im Alter von nur 53 Jahren an Herzversagen starb. Ihrem Wunsch gemäß wurde ihr Leichnam eingeäschert und die Asche vor der griechischen Mittelmeerküste verstreut. Auf dem Pariser Friedhof Père Lachaise befindet sich deshalb nur ein symbolisches Urnengrab sowie eine Tafel mit ihrem Namen.

Wer war’s?

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