»Es gibt viele Lissabons«

Stadt-Lektüren

  • Kai Agthe
  • Lesedauer: 2 Min.

Diese Anthologie leistet, was man sich von jeder Sammlung literarischer Texte wünscht: Mit jeder gelesenen Seite wird deutlicher, wie bemerkenswert die portugiesische Literatur des 20. Jahrhunderts ist. Die von der Übersetzerin Gaby Wurster getroffene Auswahl der Texte zeugt von ebensolchem Augenmaß wie die Komposition derselben in vorliegendem Band. Am Anfang steht ein Ausschnitt aus dem »Buch der Unruhe« von Fernando Pessoa und am Ende das Gedicht »Lissabon mit seinen Häusern« des spät entdeckten portugiesischen Klassikers. Zwischen dieser Klammer finden sich zahllose interessante Autoren, die repräsentativ für die zeitgenössische portugiesische Dichtung stehen.

Man kennt natürlich José Saramago, den Nobelpreisträger von 1998, Antonio Lobo Antunes und Antonio Tabucchi. Es lohnt sich aber auch, hierzulande unbekannte Autoren kennenzulernen: Antonio Alcada Baptista etwa, der über Lissabons Kioske nachdenkt und zu dem schönen Fazit findet: »Lissabon bewahrt ein menschliches Maß, und so soll es bleiben: stolz, keine große Metropole zu sein.« Oder Victor Serpa, der an seine Kindheit in Lissabon erinnert und zu dem Schluss kommt: »Ich begriff, dass die Welt für ein kleines Kind immer dessen Größe entspricht.«

Fernando Sobral bekennt in »L. Ville«: »Es gibt viele Lissabons. Am selben Ort, zur selben Zeit, aber alle sind sie verschieden.« Rui Zink spricht aus, was andere eher indirekt mitteilen: »Lissabon war hübsch, ein Stück Erde, das uns mächtig beeindruckte.« Und: »Lissabon, das sah man auf den ersten Blick, war eine schöne, aber verluderte Stadt. Eine Art Humphrey Bogart auf Weiblich.«

Mit Erich Maria Remarque und Walter Benjamin wurden auch zwei Deutsche in den Band aufgenommen: Ein Auszug aus dem Roman »Die Nacht von Lissabon« des einen und der Essay »Das Erdbeben von Lissabon« des anderen Autors. Walter Benjamin hätte man gewünscht, wenn er auf der Flucht vor den Nazis, die sein Exilland Frankreich überrollten, die portugiesische Hauptstadt erreicht hätte. So aber setzte der desillusionierte Philosoph seinem Leben 1940 selbst ein Ende.

Jeder, der mit Pascal Merciers »Nachtzug nach Lissabon« ans westliche Ende Europas reiste, sollte auch dieser gelungenen literarischen Einladung in die portugiesische Hauptstadt folgen.

Lissabon. Eine literarische Einladung. Hrsg. von Gaby Wurster. Verlag Klaus Wagenbach. 139 S., geb., 15,90 €.

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