Nur EINEN König ließ er gelten

Zum 70. Geburtstag von John Lennon. Ein Ortstermin in Abbey Road

  • Reiner Oschmann, London
  • Lesedauer: 6 Min.
Vier Japanerinnen auf dem berühmten »Strich« ...
Vier Japanerinnen auf dem berühmten »Strich« ...

Der berühmteste Zebrastreifen der Welt wird löwenhaft umkämpft: Autofahrer, froh, den Staus vom Hyde Park entkommen zu sein, fahren dicht und wie bei uns auf 50er-Strecken 60. Mindestens. Ihnen in den Weg stellen sich die Ein-PSler. Sie bauen nicht auf den Zebrastreifen; doch sie hoffen auf ihn. Tatsächlich gibt es unter den Autofahrern alle Minuten einige, die gnädig sind mit den Passanten. Diese drängen auf den Streifen. Sie wollen sich ablichten lassen wie die Beatles, die damit die Hülle ihrer amtlich letzten LP (»Abbey Road«, 1969) geschmückt hatten.

An diesem warmen Herbst-Nachmittag 2010, ein Mittwoch, fast 70 Jahre nach Geburt und beinahe 30 nach der Ermordung von Beatles-Kopf John Lennon, ist es vor den Studios in Abbey Road 3 so, als befänden wir uns nicht ein halbes Jahrhundert nach Gründung und vier Jahrzehnte nach Auflösung der berühmtesten Popgruppe aller Zeiten. Immer wieder kommen Leute zum Zebrastreifen, klicken Kameras, kritzeln Fans Namen und Botschaft auf die weißen Zaunsäulen und –fundamente, mit denen sich die Studios von der Straße abgrenzen.

Imagine there's no heaven

It's easy if you try

No hell below us

Above us only sky

Imagine all the people

Living for today

Aha-ahh.

Die meisten sind jung, jünger nicht nur als die Beatles, sondern auch als deren Kinder – Lennons erstgeborener Sohn Julian etwa ist heute schon sieben Jahre älter als sein Vater, als er, gerade 40, in New York von einem durchgeknallten Fan erschossen wurde. Der Eindruck des Nachmittags deckt sich mit den verlässlicheren Langzeitbeobachtungen, von denen der Chef der Studios erzählt.

»Wir wundern uns«, so Jonathan Smith, »denn wir haben das Gefühl, heute kommen immer noch genau so viele wie früher. Und seit wir im Internet unter AbbeyRoad.com am Fußgänger-Überweg eine hochauflösende Kamera platziert haben, ist die Nachfrage nochmals gewachsen.«

In der Tat: Nichts mit angejahrten Erinnerungshungrigen. Die erste, die ich frage, was sie an die Graffiti-Mauern (die Bezirksverwaltung der City of Westminster lässt die Anbetungswände spätestens alle zwei Monate neu tünchen) treibt, ist 24, Rechnungsprüferin und aus Baku, Aserbaidshan. Roza Valyeva wurde sechs Jahre nach Lennons Tod in der Sowjetunion geboren, ist über die Eltern »mit der Musik der Beatles vertraut geworden«. Sie leiht sich meinen grünen Filzstift und setzt an die linke Säule neben ihren Namen »Beatles forever«. Sie mag am meisten »Yesterday« (Paul McCartney), von den Pilzköpfen am meisten Lennon.

Imagine there's no countries

It isn't hard to do

Nothing to kill or die for

And no religion too

Imagine all the people

Living life in peace

Yoohoo-Ooh.

Bei den 20- und 21-jährigen Emin, Saki, Maju und Rie aus Japans viertgrößter Stadt Nagoya, wo die vier Kulturwissenschaft studieren, ist die Gemütslage ähnlich. Sie »lieben die Beatles wegen ihrer Musikalität, die mir zugleich außergewöhnlicher und normaler als vieles von heute vorkommt«, wie Emin Sengoku findet, und so unterschiedlich ihre Lieblingssongs sonst sind, Lennons »All you need is love« und »Happy Christmas (War is over)« haben es ihnen besonders angetan. Sie haben sich sagen lassen, dass McCartney der musikalischere der beiden kreativsten Pilzköpfe, Lennon der rebellischere und engagiertere von ihnen gewesen sei. Das berührt sie, genauso wie kurz darauf die 18-jährigen Medien-Studentinnen Sofia Byström und Emma Nilsson aus Göteborg. Auch sie zitieren »All you need is love«, »A day in the life« und Lennons »Imagine«, um ihr Urteil zu begründen, die besten Titel der Beatles seien »zeitlos schön«. Das klingt rührend und liegt auf einer Linie mit Aussagen von Kritikern wie Paul Evans: »Den Beatles verdanken wir den endgültigen, großen Konsens der Popmusik. Sie nicht zu mögen ist ungefähr so pervers, wie die Sonne nicht zu mögen.«

Falls darin ein Körnchen Wahrheit steckt, erklärt es eine Beobachtung von Jeff Turner. Der ist 68 (»Jahrgang McCartney«), Wirtschaftsgutachter und betreibt seit drei Jahren 5 Gehminuten von den Studios entfernt, in Violet Hill 2, mit Partner einen Souvenirladen. Viele Japaner, Amerikaner und Italiener kämen, »derzeit vor allem Russen, Polen und Leute aus anderen einstigen Ostblockländern«. Wie das Leben so spielt: Dort, wo gestern die Zukunftsgewissheit am größten war, ist heute die Nostalgie am heftigsten.

Imagine no possessions

I wonder if you can

No need for greed or hunger

A brotherhood of man

You may say I'm a dreamer

But I'm not the only one

I hope someday you'll join us

And the world will live as one.

Seit Jahr und Tag gibt es eine unersättliche Beatles- und eine Multi-Million-Dollar-Lennon-Industrie. Ohne die sind – wenn auch nicht allein – die anhaltenden Pilgerfahrten nach Abbey Road nicht zu verstehen, wo die Beatles in Studio 2 rund 90 Prozent ihrer Aufnahmen einspielten. Diese Industrie braucht und puscht Geburts- und Todestage. Sie hat sich dabei noch nie von der Abneigung abschrecken lassen, die manches Objekte der Begierde gegen solche Vermarktung äußerte.

Gerade hierin hatte John nichts mit dem Beatles-Rummel oder seiner Erhebung zu »St. John« am Hut. Lennon blieb bei den Beatles zweifellos der politischste, rebellischste und establishment-kritischste Kopf. Davon singen nicht nur die Zeilen des hier eingestreuten »Imagine« ein Lied. Hohn und Spott hätte der krawallige und verletzliche John für Nachrichten gehabt, wonach das WC seines letzten Hauses in England diesen September für 13 000 Euro, das letzte von ihm persönlich signierte Album »Double Fantasy« 2003 für 525 000 Dollar versteigert wurden und in den Jubiläums-Tagen eine mit falschen Lennon-Zitaten gespeiste TV-Werbung für eine französische Automarke anlief bzw. Mont Blanc einen Lennon-Füller für 27.000 Dollar anbietet. Der Rock ‚n’ Roller Lennon, der Elvis als einzigen »King« gelten ließ, hat mit seiner Musik Millionen verdient und zeitlebens viele Tausende für wohltätige Zwecke gegeben.

Mit »Imagine« brachte er einen Song heraus, von dem der Chef der Abbey Road Studios, Jonathan Smith, sagt, »dass er unter allen Liedern wohl am ehesten sein Erbe ausmacht«. Lennon bezeichnete »Imagine« im Vergleich zum raueren »Plastic Ono Band« (»Give peace a chance«) als »Plastic Ono mit Schokoladenguss«. Doch »Imagine« ist eines der Lieder, die Lennon als ebenso poetischen wie religionskritischen, sehnsuchtsvollen und politisierten Künstler ausweisen. Er wollte nichts wissen von Heldenverehrung für Leute, die öffentlich sterben.

Kierkegaards »Leben kann man nur vorwärts, das Leben verstehen nur rückwärts« erschien ihm schlüssiger. Es trug zu einer Musik bei, die jenseits aller Sprache ausdrückt, was nicht gesagt werden kann und worüber zu schweigen unmöglich ist. Oder wie es Jack Milting, ein Mann aus Chicago, an jenem Septembertag fasst: »Als John schrieb ›Stell dir vor, es gibt gar keinen Gott im Himmel‹ und ›Gib dem Frieden eine Chance‹, unterschrieb er sein Todesurteil.«

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