Psychiatrie als Falle für Frauen?

  • Dr. Marion Sonnenmoser, Neurologin
  • Lesedauer: 2 Min.
Viele psychische Störungen geben nach wie vor Rätsel auf, denn über ihre Ursachen ist noch nicht viel bekannt. Es wird angenommen, dass bei der Entstehung psychischer Erkrankungen mehrere Faktoren zusammenwirken. Einige Störungen wie Schizophrenie kommen bei Männern und Frauen etwa gleich häufig vor. Andere Störungen wie Depressionen, werden bei Frauen wesentlich häufiger diagnostiziert als bei Männern. Die Berliner Diplom-Psychologin und Psychotherapeutin Roswitha Burgard versucht in ihrem Buch »Frauenfalle Psychiatrie - wie Frauen verrückt gemacht werden«, dieses Phänomen zu erklären. Sie geht davon aus, dass die frauenfeindlichen Lebensumstände in unserer Gesellschaft zur Häufung von psychischen Erkrankungen bei Frauen führen. Nach Burgard werden Mädchen schon früh dazu erzogen, sich selbst für minderwertige Wesen zu halten. In ihrer Erziehung werden typisch weibliche Eigenschaften wie Anpassung, Passivität und Unterordnung gefördert, die sie jedoch unmündig und unselbständig werden lassen. Darüber hinaus werden viele Frauen in ihrer Selbstentfaltung eingeschränkt und unterdrückt, indem sie auf ihre geschlechtsspezifische Rolle als Hausfrau und Mutter oder auf ihr Aussehen reduziert werden. Mädchen und Frauen erleben außerdem viel häufiger Diskriminierung, berufliche Benachteiligung und sexuelle Gewalt als Jungen und Männer. Wenn sich Frauen gegen diese Ungerechtigkeiten auflehnen und unbequem und aggressiv werden, erklärt man(n) sie für verrückt und weist sie in die Psychiatrie ein. Burgard zeigt in ihrem Buch viele Missstände in Gesellschaft und Psychiatrie auf. Sie berichtet aus persönlicher Sicht über Fälle aus ihrer Praxis. Ihr Argument »Frauen werden von der Gesellschaft (insbesondere von Männern) für verrückt erklärt, um sie mundtot zu machen« löst Betroffenheit aus. Durch die feministische Sichtweise Burgards kommen jedoch andere Erkenntnisse über psychische Erkrankungen etwas zu kurz. Beispielweise spielen bei der Schizophrenie die genetische Veranlagung und Stoffwechselstörungen eine bedeutende Rolle. Der Einfluss psychosozialer Faktoren auf die Entstehung und Entwicklung psychischer Erkrankungen ist hingegen noch nicht hinreichend empirisch untersucht worden. Burgards Beitrag ist daher als kritischer Versuch zu werten, auf geschlechtsspezifische Diagnosen und Behandlungsformen hinzuweisen. Als allgemeingültiger Erklärungsansatz darf er jedoch nicht verstanden werden.
Roswitha Burgard: Frauenfalle Psychiatrie - wie Frauen verrückt gemacht werden, Orlanda-Verlag, Berlin 2002, 224 Seiten, ISBN 3-929823-88-8

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