Nur mutige Männer gestehen Ängste

  • Walter Schmidt
  • Lesedauer: 5 Min.
Als die U-Bahn losfährt, greift Anna zu. Sie ist fünfzehn – und liebt den Nervenkitzel. Festgeklammert am Türgriff und der Dachrinne des Zuges, saust sie in die dunkle Röhre. Sie jauchzt vor Lust. Was das »Großmaul« Uschi kann, schafft sie doch mit links.

Maries Fuß spielt mit dem Gaspedal. Immer wieder lässt die 16-Jährige den Motor von Vaters Porsche aufheulen und linst dabei stolz durchs Wagenfenster in die Gesichter ihrer Freundinnen. Na klar wird sie es wagen, damit einmal um die Rapsfelder zu brettern. Entschlossen braust sie mit quietschenden Reifen los. Die Mädels draußen schlucken Staub und sind baff.

Hat Sie beim Lesen etwas irritiert? Kein Wunder, denn Mädchen dürften nur ausnahmsweise einmal solchen Unfug veranstalten. Jungs viel eher, denn sie lieben das Gefühl von Angstlust, laut dem ungarisch-britischen Psychoanalytiker Michael Balint eine »Mischung von Furcht, Wonne und Hoffnung« beim »Aufgeben und Wiedererlangen von Sicherheit«.

Männer setzen sich irren Gefahren viel eher aus als Frauen – sei es durch Sprünge von den Klippen im mexikanischen Acapulco, durch Koma-Saufen auf Partys oder durch panische Stiere bei der Corrida in den engen Straßen von Pamplona. Derartiges Verhalten befriedige – falls nicht zur Sucht verzerrt – ein normales Bedürfnis eines Menschen »im Spannungsfeld zwischen Sicherheitsbedürfnis und Neugier«, sagt der Aachener Psychoanalytiker Thomas Auchter.

Angstlust mischt bei aufregenden Kinderspielen ebenso mit wie bei akrobatischen Kunststücken und Extremsportarten wie Bungee-Springen oder Gleitschirmfliegen. Angstlust-Erfahrungen seien ganz typisch für Heranwachsende, sie dienten der Angstabwehr – »im Tiefsten« sogar der Abwehr von Todesangst –, »indem bewusst Angsterfahrungen aufgesucht und bewältigt werden«, fügt Auchter hinzu.

Dass »mehr Männer als Frauen« sich diesem inneren Zwiespalt aussetzen, hänge auch mit kulturspezifischen Geschlechterrollen zusammen. »Im kollektiven Unbewussten« müsse sich ein typischer Mann auch heute noch mehr beweisen als eine Frau, erklärt der Diplom-Psychologe das Phänomen. »Dass gerade jugendliche Männer sich bevorzugt solchen Gefahren aussetzen, hängt vermutlich mit ihrem altersspezifischen unbewussten Imponiergehabe gegenüber Frauen zusammen.« Hingegen wollten ältere Männer, die ihre Angstlust auslebten, vermutlich bloß jünger wirken. Frauen benutzen dafür Gurkenmasken und Schminke.

Die Gretchenfrage ist jedoch, inwiefern der Umgang beider Geschlechter mit Furchteinflößendem in die Wiege gelegt oder anerzogen wird. Anders gefragt: Sind Frauen ängstlicher als Männer – oder gar umgekehrt?

Ein Beispiel: Wenig fürchten Männer so sehr, wie als »weibische Memme« zu gelten – letztlich eine Form der Impotenz. Schon der pubertierende Junge weist Herzlichkeiten seiner Mutter oft zurück, um nicht als bedürftiges Männlein zu gelten – die nicht seltene männliche Angst vor Nähe hat hier eine Wurzel. Umgekehrt bleibt Mädchen dieser innere Konflikt erspart; sie dürfen ruhig mit Papa schmusen. Doch dieser Unterschied kann anerzogen sein.

Erbliche und gelernte Faktoren von Ängstlichkeit seien »schwer auseinanderzuhalten«, sagt die in Münster praktizierende Psychologin und Angst-Expertin Silvia Uhle. »Die vermischen sich, so dass man nicht weiß, was ist die Henne und was das Ei.« Ihr seien jedenfalls »keine wissenschaftlichen Belege bekannt, wonach es genetisch bedingte, geschlechtsspezifische Ängste geben könnte«.

Ob anerzogen oder vererbt: Frauen litten jedenfalls »etwa zwei- bis dreimal so häufig an Angststörungen wie Männer«, sagt Anita Riecher, Chefärztin der Psychiatrischen Poliklinik am Universitätsspital Basel. Das betreffe vor allem Panikstörungen und generalisierte Angststörungen, die mit nahezu unterschiedsloser Ängstlichkeit und Besorgtheit einhergehen, aber auch die Phobien.

Riecher zufolge ist »zu vermuten, dass hier Erziehungsfaktoren mit eine Rolle spielen, da diese Ängste schon bei jungen Mädchen auftauchen«. Früh auftauchende Ängste begünstigten nicht nur spätere Angsterkrankungen, sondern auch Depressionen.

Gut möglich, dass typische Männerängste weit in die Menschheitsgeschichte zurückreichen. »Schon ein Steinzeit-Junge, der sich wegen einer Ratte erschrocken hat, wird andere Rückmeldungen bekommen haben als ein Mädchen«, vermutet die Angst-Therapeutin Silvia Uhle. »Man wird ihm gesagt haben, geh und töte diese Ratte.« Das Mädchen hingegen werde man ermahnt haben, »es soll das Verfolgen und Töten der Ratte lieber dem Bruder oder dem Vater überlassen«.

Auf diese Weise kann sich eine Angst durch mangelnden Kontakt zu einem Tier herausbilden – und nicht etwa durch ein bestürzendes Erlebnis. »Man hat zum Beispiel herausgefunden, dass Kinder, die oft von Klettergerüsten heruntergefallen sind, später nicht häufiger Höhenangst entwickeln – wovon man ja nach derart schmerzlichen Erfahrungen ausgehen könnte«, sagt Uhle. Vielmehr entwickeln solche Kinder seltener eine Angst vor Höhe, weil sie den Umgang damit gewohnt sind.

Angst zu haben, ist jedoch nur das Eine; das Andere ist die Weise des Umgangs damit – und darin unterscheiden sich die Geschlechter. »Männer mit sozialen Ängsten wie jener, irgendwo unangenehm aufzufallen, kompensieren das häufiger als Frauen dadurch, dass sie zum Alkohol greifen, um sich selbst zu beruhigen – manchmal bis hin zu einer Abhängigkeit«, sagt Silvia Uhle. Deshalb seien die offiziellen Fallzahlen bei sozialen Phobien, wonach Frauen etwas öfter davon befallen werden, trügerisch. »Hier gibt es vermutlich eine hohe Dunkelziffer.«

Denn eher als Frauen versuchen Männer ihre Angst selber zu bewältigen und eine Therapie zu vermeiden. »Allein der Begriff Angst ist für viele Männer negativ besetzt«, sagt Uhle. Spiegele ein Therapeut einem Mann nach dessen Bericht zurück, er habe offensichtlich vor etwas Angst gehabt, streite dieser es oft ab und sage: »Nein, nein, das war keine Angst, mir ging es in der Situation nur nicht so gut.« Denn Angst zu haben, bedeute für Männer, Schwäche zu zeigen. Dabei sagt selbst der als tapfer geltende Ex-Kanzler Helmut Schmidt: »Einer der keine Angst hat, muss dumm sein.« Ängste solle man »nicht verdrängen, sondern bewältigen«.

Vor allem an den Frauen liegt es, ihren Partnern die Scham vor Ängsten zu nehmen. Und an den Vätern, ihren kleinen Söhnen nicht länger den Unsinn einzureden, Indianer kennten keinen Schmerz. Dann könnten sich kleine Wunder ereignen, vielleicht ja dieses:

Der sechsjährige Matthias steht mit aufgerissenen Augen auf der mehr als mannshohen Friedhofsmauer. Daniel und Kalle, Erstklässler wie er, feuern ihren Freund an, es ihnen doch gleichzutun – und »endlich« zu springen. Doch Matthias zittert, seine Knie sind butterweich. »Lass es, wenn du dicht nicht traust», ruft Daniel da plötzlich. Selbst der tollkühne Kalle nickt verständnisvoll – und Matthias atmet auf.

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