Jetzt, Mittelalter, oder wann

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Ein Minnesänger ist er nicht. Aber eine Art Innesänger. Das Wort »innehalten« geht wie ein sanfter Befehl durch dieses Poem in Prosa. Das Innehalten ist gleichsam das wesentlich Fortlaufende im neuen Buch von Peter Handke. Ein Zeit-Wort, ein Gegenzeit-Wort. Es ist das Aufrufen einer anderen Zeit als jener gewöhnlichen, geläufigen Zeit, die so stumpf vorrückt, uns im Geschirr. Sie hat keine Stunden- und Sekundenzeiger, die Handke-Zeit, ihre Uhren haben nicht diese kleinen schwarzen Striche, die aussehen wie winzige Särge, in denen Minute für Minute verschwindet und traurig besiegelt wird.

Die Zeit bei Handke bemisst sich nach dem, ob die Äpfel am Baum klirren oder nur in eine schwache Bewegung gerieten, bemisst sich danach, ob es die Butterfasszeit oder die Mistausfuhrzeit war, die Sonntagsschürzenzeit oder die Knickerbockerzeit. Alles Mögliche!, nur nicht »die Realzeit, die historische, die beschissene, die auf ewig verlorene«, und wir, »bleischwer verloren in ihr«. Es ist im Buch die Rede von der Sehnsucht »nach einer anderen Zeitrechnung, nein, nicht Rechnung, Ekel vor jeder Rechnung«. Und Ekel vor einer Welt heute, wo nur »seinen Platz findet, wer ihn selber mitbringt«.

Innehalten, das heißt: nicht rigide und ablaufsüchtig auf die Dinge zustürzen, sondern sie zögerlich umreißen. Eine »Zeitreise« nennt der Ich-Erzähler das, was ihm geschieht, und so ist das Umreißen zugleich auch ein Umreisen – dessen, was aus den Tiefen jener »anderen« Zeit ins moderne Gemüt ragt. Es ist dies kein Buch darüber, wie Menschen Geschichte machen. Es ist ein Buch darüber, wie Menschen von Geschichte gemacht, niedergemacht werden, wie Menschen also zu sich kommen, indem sie erzählend entkommen, sich im »Tagtraum« aus jenem Staub machen, den Geschichte erstickend aufwirbelt. »Unsere Leidensgeschichte: kommt sie aus unserer passiven Natur? Oder kommt unsere passive Natur aus unserer Leidensgeschichte?«

Dem Ich-Erzähler begegnen sieben Mitglieder seiner Familie, »jetzt, im Mittelalter, oder wann«, auf dem Kärntner Jaunfeld, Grenz- oder auch Verbindungsgegend zwischen Österreich und Slowenien. Diese Vorfahren – für den Erzähler, diesen Nachzügler, sind sie »Ersatz, Halt und Licht«. Auf einer Heide trifft er sie. Eine Bank dort, und eine Stimmung, als sei dies die Weltmitte, ein Ort aber abseits, und so, als sei's zudem auch die Dorfmitte, die Bühnenmitte auf jeden Fall, und ein Baum reckt sich – beides, Heide und Baum, darf an Shakespeares »Lear« wie an Becketts »Warten auf Godot« erinnern; Sturm und Spiel, die Weite als der wahre Erzählensraum, und bei der Beschreibung des Baums genügt eine einzige Wendung des Dichters zur Klärung seiner heiter hochmütigen Haltung zum genauen realistischen Schreiben, denn: Da hängen »etwa 99 Äpfel«.

»Immer noch Sturm« (zunächst ist es auf der Heide »heimelig«) lässt in Monologen, Reden und Widerreden alle zu Wort kommen. Die Mutter des Erzählers, seine Großeltern (auferstanden in ihnen, treulich-knorrig, Philemon und Baucis?), die drei Brüder der Mutter, Gregor, Valentin, Benjamin, und Ursula, Schwester der Mutter. Aufblättert sich die Geschichte einer Familie als slowenische Geschichte, als Sprachrettungs- und Sprachverlustgeschichte im geschichtlichen Mahlwerk (»Sprache retten ist Seele retten«), als Widerstandsgeschichte gegen Hitler, als Sterbegeschichte also auch, als ewige Ohnmachts- und Tölpelgeschichte, als Fluchtgeschichte der einen ins vermeintlich bessere, leichte, vielfältige Leben woandershin und als Heimkehrgeschichte der anderen ins bleibend schwere, einfältige Leben daheim. Handkes Familiengeschichte.

Ach, zu wenig wär's! Inspirationslos, diese Kritiker-Grabung nach den Berührungspunkten von Realem und Erfundenem. Einmal bekennt der Ich-Erzähler, er sei müde vom Klartext – ein Versprechen Handkes sei das wohl, so konnte man in Rezensionen lesen, künftig weniger reizbar beim Thema Jugoslawien zu sein. »Immer noch Sturm« ist zu sehr Poesie, ist zu sehr Erfindung eines ganz eigenen Weltgefühls durch wirklichkeitssprengende Sprache und lohende Miteinander-Visionen, um sich überhaupt auf solche Banalität des Fragens einzulassen. Aber einmal mehr weiß man, dass besagte Reizbarkeit aus eines Menschen tiefstem Wurzelgefühl wuchs.

Dieser Text ist kindlicher Augenaufschlag im Tragödiendreck, ist Naturlob im Bombengebrüll, ist Dorftrampelhymne wieder die modernen »Fizzies und die Fuzzies«. Eine Geschichte von familiärer, stämmischer, völkischer Bindung – als einem Glück, als einem Fluch, als einem Antrieb fürs Bleiben wie fürs Weggehen. Es ist ein leidenschaftlich erzähltes, herzblutend mitgefühltes und angreifend zartes Märchen von der »Kraft der Schwachen« (Anna Seghers), und im Ich-Erzähler bebt der Widerspruch zwischen hartnäckigen Herkunftskräften und weltzugewandten Ent-Fremdungslüsten.

Was ist das alles? Ein Gesang. Ein Singsang. Eine Suada. Ein Theaterstück in Prosa. Eine Erzählung in wörtlichen Reden. Eine Versammlung wider alle Tages-Ordnungen. Ein »Rede-Antwort-Wettbewerb«, wie es im Buch heißt. »Ich: Der Himmel gibt sich zufrieden mit einem Baum in Einzelblüte. – Darauf er: Früher oder später wird jeder ein Gespenst.« Es vergeht bei diesem Erzählen, bei diesem Sich-ins-Wortfallen viel Zeit, oder anders: Sie entsteht. Es kommt die Zeit ... Handke-Zeit, darin sich die Jahreszeiten mischen und die Toten aus dem Dunkel treten. Wer von den Heideleuten da in den Erzählkreis kommt, der kommt aus Dämmerungen oder einem Hintergrund oder aus dem Nichts oder von seitwärts, ist plötzlich da oder tänzelt sich heran. Spricht deutsch, wechselt ins Slowenische. Peter Handke ist ein Meister der An-Sätze, der Streifung von Leben. Einer hat hier den anderen, um mit fremden Augen sehen zu können, um jemanden zum Sprechen und Hören zu haben, um aber auch überrascht zu werden von der eigenen, unvermutet losratternden, losflehenden, lospurzelnden, losschimpfenden, losflüsternden Litanei. Die Realität wird zum Spiel, Spiel ist Wahrnehmung: wird für wahr genommen, das Unwirkliche verlässt zu keiner Zeit die Szene. Frieden: »das Trommeln der Bäche an den Bachsteinen«. Politik: »Ja, gottgefällig zusammensitzen: das ist Tätigsein. Das ist Politik!«

Ich habe kein Buch jüngster Zeit (ach, welch Strecke umfasst das!) gelesen, in dem so erschütternd, so ergreifend, so opferinnig erzählt wird, wie Menschen in den Krieg ziehen, hier in den Krieg gegen Hitler, wie sie von gerechtem Auftrag erhöht und doch vom Krieg besiegt werden, selbst wenn der Tod ausbleibt. Der Mutter-Bruder Gregor, des Erzählers Onkel, wird Partisan, »Grüner Kader«, er nennt sich Jonatan, nach der geliebten Apfelsorte, und Schwester Ursula ist im Kampf in den Wäldern die »Schneeige« – Handke erzählt von diesem Widerstands- und Befreiungskampf, als erzählte er eine Heiligengeschichte; es ist eine Heiligengeschichte, und die wahren Heiligen sind die ewig Verwundeten, Versehrten, die nicht wieder ins Landläufige Findenden, die schönen Verkrüppelten im glatten Weltengang.

Der Großvater wird in Trauerwut über den Kriegstod der Tochter den Baum ausreißen. Und der Sturm wird stärker, beginnend als »eine Art Aufwind, aus dem Erdinnern«. Und die Bank versinkt langsam im Boden. Und der Frieden (zum Essen, nach langem Hungern: ein Eimer Löwenzahn, das ist Frieden!) wird wieder Krieg sein, kalter Krieg, Befreiung durch den Westen, die Schutzmächte verbrennen die Obstbäume wegen der Parkplätze für die Panzer, »sie haben geschrien im Feuer, die Birn- und Äpfelbäume«.

Geschichte reißt auseinander, Seelen wie Völker. Geschichten aber können vereinen, wenn man so mit dem leidenden Menschen fiebert wie Peter Handke. Er schrieb ein grandioses Sitten- als Sippenstück.

Peter Handke: Immer noch Sturm. Suhrkamp Verlag Frankfurt (Main). 166 S., engl. Broschur, 15,90 €. Foto: dpa/Hoca

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