Ausschnittsweise Datenschätze

MEDIENgedanken: Zeitungsschnipsel versus Internet

  • Eckart Roloff
  • Lesedauer: 4 Min.

Seit es Zeitungen gibt, gibt es Zeitungsausschnitte. Das wäre logisch, doch wahrscheinlich stimmt es nicht. Die ersten Zeitungen, die Wochenblätter des frühen 17. Jahrhunderts, waren wohl zu kostbar zum Zerschnippeln. Doch als Zeitungen zur Massenware geworden waren, begann man, einzelne Artikel auszuschneiden. Auch gegen Geld. Um 1880 entstand daraus ein Riesenmarkt. Unternehmen in Paris, London und New York und seit 1888 das »Berliner Litterarische Auskunfts-Bureau« verdienten gut daran.

Damals erkannten Politiker, Wirtschaftsführer und deren Zuarbeiter, wie nützlich solche Belege waren. Noch heute wird in Ministerien, Parlamenten und Verbänden ausgeschnitten. Als Beweise für die Arbeit der Chefetagen, als Dokument über den Tag hinaus, als Datensammlung und Grundlage für Argumente, aufklärend auch über Gegner – das muss man einfach nutzen. So wuchs eine regelrechte Zeitungsausschnitt-Industrie heran. Sie lebt bis heute. Von 1880 an wurde angestrichen, geschnitten, sortiert, geklebt, datiert und verschickt. Halb Europa sah sich erfasst. Ein neuer Beruf kam auf, Frauen wurden zu Lektorinnen. Unabdingbar war eine gute Ausbildung, ein vorzügliches Gedächtnis, ein scharfer Blick für gefragte Stoffe. Um 1936 arbeiteten in Berlin sechs Ausschnittbüros, 1968 waren es sogar 13.

Dieses Ausschneiden ist eine Kulturtechnik wie das Sammeln generell, das Lesen und Schreiben, das Rechnen, Kochen und Bauen. Für dieses weite Feld gibt es sogar das Helmholtz-Zentrum für Kulturtechnik. Es ist Teil der Berliner Humboldt-Universität, hat sich aber bisher noch nicht mit dem nur auf den ersten Blick banalen Ausschneiden befasst. Vielleicht gibt das einen Impuls: Dass sich der Schriftsteller Cees Nooteboom einmal als »Gärtner der Zeitungsausschnitte« sah.

Kulturtechnik – der Begriff ist nicht zu hoch gewählt. Zum Schneiden braucht man etwas Technik, etwa eine Schere. Möglich sind aber auch Cuttermesser mit herausziehbarer Klinge. Fortgeschrittene Ausschneider führen solch bewährte Instrumente stets bei sich. Es wäre unverzeihlich, hätte man geeignetes Druckgut vor sich und könnte es nicht sichern. Die denkbare Alternative: ein Ausriss, für Kenner freilich ein Graus, nahezu ein Kunstfehler.

Zu sehen war etwas dazu in zwei Berliner Ausstellungen, von September 2002 bis Januar 2003 unter dem Motto »Cut and Paste um 1900«. Präsentiert wurden dabei auch die reichen Kollektionen des Mediziners und Politikers Rudolf Virchow, des Technikhistorikers Franz Maria Feldhaus und des Physikers Ernst Gehrcke. Lange nach ihrer Zeit werden die Zettelkästen des Soziologen Niklas Luhmann und des Philosophen Hans Blumenberg legendär; sie bargen viele Ausschnitte.

Einer der traditionsreichsten Ausschnittdienste ist der »Observer« (Wien). Im Internet sagt er zu seinem heutigen Arbeitsfeld: »Wir analysieren laufend 2336 Printmedien, 1101 Online-Portale, über 2000 Newsgroups, ca. 40 000 Weblogs sowie 160 Radio- und TV-Sendungen in Österreich. Seit 100 Jahren vertrauen Unternehmen, PR-Agenturen und Prominente dem ›Observer‹ die Beobachtung ihrer Medienpräsenz an. Und klären damit sämtliche Fragen.« Die Sache ist klar: Ausschnittagenturen sind kein Fall von gestern, sind nicht ausgestorben. Im Gegenteil: Sie sind nach wie vor gefragt. Doch sie heißen nicht mehr wie zur Gründerzeit Auskunfts-Bureau, Spezialdienst und Zeitblick, sondern Pressrelations oder Landau Media Monitoring, um Beispiele zu nennen. Allesamt bieten sie sich auch über das Internet an – und mehr: Sie versuchen, die kaum erfassbare Masse an Internet-Informationen bis hin zu Weblogs und Newsgroups zu registrieren. Das hat ihnen gänzlich neue Geschäftsfelder eröffnet.

»Die Medienauswerter freuen sich über Umsatzzuwächse«, so ein Fachblatt schon im Jahr 2002, denn unverändert wollen Verbände und Unternehmen wissen, was über sie zu lesen, hören und sehen war. Dafür genügt es nicht, ein paar Zeitungen und Rundfunkprogramme zu verfolgen. Die Clipping-Analysten in den Agenturen liefern aus Tausenden von Quellen detaillierte Controlling-Berichte, eine Art PR-Überwachung, in der von Resonanz und Evaluation, Optimierung und Reichweiten die Rede ist.

Zeitungsausschnitte haben inzwischen Kinder oder besser Enkel bekommen. Sie heißen Links. »Ich schick dir das als Link«, sagt man heute. Im Internet wird ein wenig herumgeklickt, gesucht und meist gefunden, ein Text, ein Bild markiert, die E-Mail-Adresse des Empfängers dazugetippt – und ab die Post der Postmoderne. Diese Variante einer Kulturtechnik erspart das Ausschnippeln, datieren, eintüten und frankieren. Die Enkel der Enkel werden womöglich gar nicht mehr wissen, was es einmal vor den Links gab, so richtig zum Anfassen und Formatieren der anderen Art.

Fremd geworden ist ihnen das Ausschneiden auf keinen Fall. Im Gegenteil: Es gehört zu den Routinen von Textverarbeitungsprogrammen. Fast jedes Kind weiß heute, was auf der Menuleiste des PC das Symbol mit der offenen Schere (auch als Snipping Tool oder als Shortcut mit dem Befehl Strg plus X) schafft: weg mit der Datei in die Zwischenablage, das Hausarchiv. Eine Sache von wenigen Sekunden, kaum der Rede wert. Eine Kulturtechnik der Moderne: das Ausschneiden auf Tastendruck. Wird es so lange leben wie der Zeitungsausschnitt?

Der Autor ist Journalist und Buchautor und lebt in Bonn. Von 1975 bis 1988 war er Referent im Bundespresseamt mit dem Aufgabenbereich Presseauswertung.

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