Hallo Tommy, hallo Fritz. Hallo Iwan!

Weihnachten und der Widersinn des Krieges

  • Licius Stolo
  • Lesedauer: 5 Min.

Sich mit dem Feind zu verbrüdern, gilt in Kriegszeiten als Landesverrat. Doch Friedenssehnsucht und Verständigungsbereitschaft machen selbst vor Frontsoldaten nicht Halt. Viele Beispiele aus den beiden Weltkriegen belegen das. Gerade noch in erbitterte Kämpfe verwickelt, legen sie die Waffen nieder und verlassen die Gräben. Sie reichen sich die Hände, singen Lieder, tauschen Geschenke und Lebensmittel aus. Doch wer sich als »Friedensbote« aus seiner Deckung begibt, muss damit rechnen, dass ihm die Kugeln um die Ohren fliegen. Ein Versöhnungstreffen zu wagen, dazu gehört Mut. Man weiß nicht, ob das Ansinnen beim Feind auf »Gegenliebe« stößt. Wer es dennoch tut, riskiert sein Leben.

Kaum ein Ereignis wühlt Soldaten so auf wie Weihnachten – das Fest des Friedens. Die christliche Botschaft macht Frontkämpfer nachdenklich. Die Erinnerung an ihre Kindheit überkommt sie, ihre Gedanken schlagen eine Brücke zur Heimat. Das Fest der Versöhnung steht jedoch in einem beispiellosen Kontrast zu dem Massaker, in dem sich die Menschen täglich zerfleischen. Frontkämpfer auf beiden Seiten halten inne in ihrem Tötungsrausch, wenn auch längst nicht überall.

Legendär geworden ist die »Feindberührung« Weihnachten 1914 an der Westfront. Deutsche und britische Soldaten liegen sich gegenüber. »Hallo, Tommy!« fangen die Deutschen an. Prompt hallt es von den Briten zurück: »Hallo, Fritz« – Rufe mit Signalwirkung. Engländer wie Deutsche kriechen aus den Schützengräben. Es kommt zu einer herzlichen Begrüßung zwischen den Gegnern. Sie rauchen gemeinsam Zigaretten und spielen sogar Fußball – wohl das denkwürdigste Fußballspiel aller Zeiten. Wenig später schießen die Soldaten wieder aufeinander. Auf höheren Befehl.

Was veranlasst Soldaten, mit dem Feind zu fraternisieren? Die Frage berührt nicht nur psychologische Hintergründe, auch nicht nur politische Gesinnungen. Sie greift darüber hinaus. Vielleicht war und ist es auch die Ahnung, dass wir alle Mitglieder einer großen Völkerfamilie sind, dass wir – ob Freund oder Feind – der selben Gattung oder Zivilisation angehören, einem Kulturkreis, dem wir alles, was wir sind, verdanken: Kunst, Literatur, Musik, Technik, Liebe, Sitte, Toleranz, Bildung, Humanität und vieles andere mehr. Und dass die Menschen, die sich »auf höhere Anweisung« gegenseitig zerfleischen, im Begriff sind, dieses hohe Erbe zu zerstören.

Obwohl der Verbrüderungsgedanke im Osten nach dem Überfall auf die Sowjetunion kaum eine Chance besaß, finden sich auch hier Beschreibungen einer Fraternisierung, wie Heinrich Rieker in seinem bewegendem Buch belegt. In Stalingrad rufen die Deutschen den Russen in einer Gefechtspause zu: »Habt ihr Butter oder Fleisch?« Die drüben antworten, bei ihnen gäbe es nur Salzheringe. Also wickeln die Deutschen etwas Brot in eine alte Zeltplane, werfen es den Russen rüber und erhalten dafür Heringe. Das war natürlich verboten. Aber auf beiden Seiten sind die Soldaten gleichermaßen kriegsmüde und ausgehungert. Hubert Kremser, der das Erlebnis in seinem Tagebuch festgehalten hat, schreibt: »Zuerst schießt man aufeinander, dann wirft man sich Brote zu. Das ist natürlich ein Widersinn, aber der ganze Krieg war widersinnig, das hatten wir in dieser Endphase erkannt.«

Noch eindrucksvoller ist, was Hans Schäufler, Nachrichtenoffizier an der Ostfront, im Winter 1940/41 erlebte. In der Nähe von Kromy, einem Städtchen südwestlich von Orel, will er mit seinen Leuten Weihnachten in Russland feiern. In einer halb verfallenen Kirche stellen die Soldaten zwei Fichten auf, zimmern aus rohen Brettern einen Altar und eine Kommunionsbank. Häusler erhält eine Meldung, dass mit einem Angriff von Kosakenregimentern und Partisanen zu rechnen ist. Aber er will und kann nicht glauben, dass die Russen gerade in den nächsten Stunden kommen werden und lässt den Funkspruch in seiner Hosentasche verschwinden.

Die Christmesse hat gerade begonnen, als Schäufler glaubt, seinen Augen nicht zu trauen. Kopf an Kopf stehen die Einwohner von Kromy hinter den Deutschen, bärtige Männer mit Rindensandalen an mit Lumpen umwickelten Beinen, Frauen in abgeschabten Schafpelzen und dunklen Kopftüchern. Und in einer dunklen Ecke entdeckt er eine Gruppe junger russischer Männer – mit Augen »voll unheimlichen Hasses, Augen, wie man sie nie mehr vergisst.« Mitten unter ihnen eine hohe, schlanke Gestalt mit scharf geschnittenem Gesicht und intelligentem Blick. Da geschieht etwas Seltsames. Der Pfarrer erteilt den Segen, umständlich nimmt der russische Offizier die Pelzmütze ab, senkt den Kopf, und alle jungen Männer folgen seinem Beispiel.

Schäufler verlässt das Gotteshaus als letzter. Draußen tritt ihm der sowjetische Offizier entgegen und sieht ihm lange schweigend in die Augen. In holprigem Deutsch spricht er: »Christ ist geboren!« Er küsst den Deutschen, wie es im alten Russland Weihnachtsbrauch ist, auf beide Wangen. Die beiden Männer drücken sich fest und lange die Hand. Und, so Schäufler, »ich verstand ihn, obwohl er kein Wort mehr sprach. Dann ging er mit sicherem Schritt hinaus in die Nacht.«

Die Versuche von Frontsoldaten in beiden Weltkriegen, mit dem Feind in freundschaftlichen Kontakt zu treten, verdienen Beachtung und Anerkennung. Sie wollten Frieden. Ihm – und nicht dem Krieg – gehörte und gehört die Zukunft. Nicht der Krieg ist – wie man den Menschen heute wieder weismachen will – der »Ernstfall«, sondern der Friede. Erziehung zum Pazifismus ist das Allereinfachste und Allerschwerste – in Deutschland wie in Afghanistan.

Heinrich Rieker: Nicht schießen, wir schießen auch nicht! Versöhnung von Kriegsgegnern im Niemandsland 1914-1918 und 1939-1945. Donat Verlag, Bremen. 176 S., geb., 14 €.

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