Bitterer Nachgeschmack

Schokolade, Nahrungsmittel und Luxusgut, ist bis heute Produkt der brutalen Ausbeutung von Mensch und Natur

  • Matthias Rude
  • Lesedauer: 9 Min.
So geht's auch: Diese Kakaobäuerin aus dem Dorf Benim in der ghanaischen Ashanti-Region hat sich mit Hilfe eines Kredits der christlichen Mikrofinanz-Organisation Opportunity International selbstständig gemacht.
So geht's auch: Diese Kakaobäuerin aus dem Dorf Benim in der ghanaischen Ashanti-Region hat sich mit Hilfe eines Kredits der christlichen Mikrofinanz-Organisation Opportunity International selbstständig gemacht.

Schokolade wurde sehr lange Zeit nicht gegessen, sondern getrunken. Nur etwa ein Fünftel ihrer langen Geschichte spielte sich nach dem Untergang der aztekischen Hauptstadt im Jahr 1521 ab. Bei den Azteken war das Wort für die Kakaofrucht ein rituell verwendeter Ausdruck, der für das herausgerissene Herz bei der Opferhandlung stand. Die Maya kannten ebenfalls die Assoziation zwischen Schokolade und Blut – eine gedankliche Verbindung, die auch für die Geschichte des Kakaos nach 1521 nicht unzutreffend ist.

Geld, das an Bäumen wächst

Die erste europäische Begegnung mit Kakao lässt sich genau datieren: Sie ereignete sich am Freitag, dem 15. August 1502. An diesem Tag befand sich Christoph Kolumbus mit vier Karavellen auf seiner vierten und letzten Reise, als der Expedition ein großer Einbaum entgegenkam – nach den Angaben von Ferdinand, Kolumbus’ zweitem Sohn, »so groß wie eine Galeere«. Der Admiral gab Befehl zum Kapern, was ohne Widerstand vonstatten ging. Ferdinand überliefert, zur Ladung hätten »viele von diesen Mandeln« gehört, »welche in Neuspanien als Geld benutzt werden«. Der Chronist Petrus Martyr von Anglera sprach in diesem Zusammenhang vom »glücklichen Geld« der »Neuen Welt«: »Ich nenne es glücklich, denn weder werden wegen des gierigen Verlangens und der Lüsternheit, dasselbe zu ergattern, die Eingeweide der Erde herausgerissen, noch kehrt es durch die grenzenlose Habgier unersättlicher Menschen oder den Schrecken drohender Kriege in die Gruben und Höhlen der Mutter Erde zurück, so wie es goldenes oder silbernes Geld tut: Denn dieses wächst an Bäumen.«

Die Konquistadoren brauchten nicht lange, bis sie sich die Bedeutung der Kakaobohnen als Zahlungsmittel zunutze gemacht hatten. Während sie Kakao in dieser Funktion schätzten, verabscheuten sie das Getränk zunächst – sie bezeichneten es als Schweinefraß. Um die ethnozentrische Geschmacksbarriere zu überwinden, musste das kalte, bittere, üblicherweise ungesüßte Getränk an europäische Gewohnheiten angepasst werden. Die Eroberer gingen dazu über, Schokolade heiß zu trinken und mit Rohrzucker zu süßen. Aus der Alten Welt bekannte Gewürze wie Zimt, Anissamen und schwarzer Pfeffer verdrängten einheimische Aromen wie das des Chilipfeffers. »Entdeckt« in Zeiten der Renaissance, wurde Kakao im Barock ein Getränk in den Palästen und herrschaftlichen Häusern der Reichen und Mächtigen Europas.

In der Neuen Welt hatten gegen Ende des 17. Jahrhunderts nur etwa zehn Prozent der ursprünglichen indianischen Bevölkerung das Massensterben überlebt, das der Conquista folgte. Anfangs hatten die Eroberer versucht, die Indigenen zu versklaven. In der pazifischen Tiefebene Soconusco, lange Zeit Heimat des besten Kakaos der Welt, wurde ein Sklave mit zwei Goldpesos bewertet, eine Traglast Kakao mit zehn, ein Schwein mit zwanzig Pesos. Doch 1537 erklärte Papst Paul III., die Indianer seien als »wahre Menschen« befähigt, den christlichen Glauben anzunehmen und dürften nicht wie Tiere zum Sklavendienst eingespannt werden. Deshalb wurden in den folgenden drei Jahrhunderten Menschen aus Schwarzafrika nach Amerika verschleppt – deren Versklavung war durch die Theologie legitimiert.

Dänemark war 1792 das erste europäische Land, das den Sklavenhandel abschaffte; in Frankreich wurde die Sklaverei 1817 offiziell verboten. Sophie und Michael D. Coe schreiben in ihrem Buch »Die wahre Geschichte der Schokolade«: »Die Philosophes der Aufklärung mögen an die Freiheit des Menschen geglaubt haben, doch die schaumige westindische Schokolade, die sie tranken, war das Ergebnis härtester Sklavenarbeit. Aber wer sind wir, daß wir über solche Scheinheiligkeiten richten dürften?«

»Was müssen wir tun, wenn wir Kinder finden wollen, die für uns auf einer Plantage arbeiten sollen?«

»Mein Bruder ist hier. Wenn ihr ihm sagt, wie viele ihr braucht, dann besorgt er sie euch.«

»Und wie teuer ist es, ein Kind her zu schaffen?«

»Ab 230 Euro.«

Diesen Dialog dokumentierte der dänische Journalist Miki Mistrati auf einer Kakaoplantage der Elfenbeinküste für seinen Film »The Dark Side of Chocolate«. Die ARD zeigte den Film unter dem deutschen Titel »Schmutzige Schokolade« im Oktober dieses Jahres.

»Wer Schokolade isst, isst mein Fleisch«

Das westafrikanische Land Côte d'Ivoire (Elfenbeinküste) ist heute der weltweit größte Kakaoproduzent. Hier werden 42 Prozent der Weltkakaoernte umgeschlagen, und hier findet man die großen Hersteller Nestlé, Cargill, ADM und Barry Callebaut, die fast die gesamte Ernte des Landes kaufen. Auf den Plantagen arbeiten Kinder, die aus den umliegenden Ländern verschleppt wurden. Bereits im Jahr 2000 zeigte der britische Sender Channel 4 Aufnahmen der Kindersklaven in Côte d'Ivoire. Eines der Kinder sprach in die Kamera: »Wer Schokolade isst, isst mein Fleisch.«

Die Schokoladenindustrie geriet darauf hin unter Druck und stimmte im Jahr 2001 einem internationalen Protokoll zu, das auch von Côte d'Ivoire unterzeichnet wurde. Es gewährte Produzenten, Regierungen und lokalen Farmern vier Jahre Zeit, die schlimmsten Formen von Kinderarbeit und Zwangsarbeit für Erwachsene auf den Kakaofarmen zu beenden. Dies galt unter anderem für Tätigkeiten, die ein Kind dauerhaft am Schulbesuch, sowie für gefährliche oder gesundheitsschädliche Arbeiten wie das Tragen schwerer Lasten, den Umgang mit giftigen Pestiziden und mit der Machete. 2005 bat die Industrie um drei Jahre Aufschub. Bis Juni 2008 war jedoch nicht viel geschehen, also wurde die Frist für die Erfüllung der Ziele noch einmal verlängert, bis Ende 2010.

Tatsächlich hat sich bis heute an der Situation nichts geändert. Bis zu 250 000 Kinder schuften auf den Kakaoplantagen Westafrikas; über 60 Prozent von ihnen sind unter 14 Jahre alt. Ein 16-Jähriger aus Mali berichtet auf der Internetseite der Kampagne »Aktiv gegen Kinderarbeit«: »Wir schliefen auf dem Boden einer Hütte aus Schlamm und Stroh. Wir durften sie nur zur Arbeit auf den Feldern verlassen. Kinder, die sich weigerten zu arbeiten, wurden mit dem Motorgurt des Traktors geschlagen oder mit Zigaretten verbrannt. Wir bekamen kaum etwas zu essen: mittags zwei Bananen, die wir aßen, ohne die Arbeit zu unterbrechen, und eine Maismehlsuppe am Abend. Einige Kinder sind vor Erschöpfung zusammengebrochen. Diejenigen, die krank wurden, wurden fortgeschafft. Wir haben sie nie wieder gesehen.«

Die Schokoladenimporteure schweigen zu derartigen Vorwürfen. Die großen Konzerne – auch Kraft, Hersteller der deutschen Lieblingsschokolade Milka – scheuen eine Konfrontation mit den Beweisen. Allenfalls beteiligen sie sich mit einem winzigen Bruchteil ihrer riesigen Gewinne an eher symbolischen Hilfsprogrammen. Rechercheure von Greenpeace, denen es 2009 gelang, den Preis für einen Kindersklaven auf 120 Euro herunterzuhandeln, urteilen: »Die Fürsten der multinationalen Schokoladenkonzerne lassen sich ihre astronomischen Jahresgehälter, ihre Luxuslimousinen und barocken Villen von Hunderttausenden unterernährter Kinder finanzieren. Von Kindern, die in den Pflanzungen verheizt werden wie industrieller Brennstoff.«

Heute sind Côte d'Ivoire und Ghana zwar die größten Produzenten von Kakao – Nigeria, Kamerun, Indonesien, Malaysia, Brasilien und Ecuador produzieren den Rest –, der Großteil der Wertschöpfung in der Produktionskette von Schokolade findet aber nach wie vor in den Industriestaaten des Nordens statt. Nicht einmal fünf Prozent der Produktionskosten einer Tafel Schokolade entfallen auf die Produktionsländer des Südens.

Weder lila noch glücklich

Dass sich der Anbau von Kakao nach Afrika verlagerte, lag im Übrigen an der zunehmenden Ächtung der Sklaverei in den mittel- und südamerikanischen Kolonien, weshalb dort nicht mehr so »kostengünstig« produziert werden konnte. Dennoch blieb die Geschichte des Kakaos mit jener des Kolonialismus verbunden – auch des deutschen. »Ohne den Krieg«, heißt es 1915 im Bericht des Kolonial-Wirtschaftlichen Komitees der Deutschen Kolonialgesellschaft bedauernd, »würden unsere Schutzgebiete uns 1920 ohne Zweifel 13 000 bis 15 000 Tonnen Kakao geliefert haben.«

Der Siegeszug der Schokolade in Europa und Nordamerika war vor allem mit der Einführung der Milchschokolade verbunden, die in jede Form gegossen und überall hin mitgeführt werden konnte. Erst durch die Verbindung der Schokoladenindustrie mit der rapide wachsenden Milchwirtschaft und der steigenden Kaufkraft breiter Bevölkerungsschichten etablierte sich die Schokolade als Volksnahrungsmittel.

Die erste Milchschokolade wurde 1839 in der Fabrik Jordan & Timaeus in Dresden kreiert. Um 1900 war Dresden einer der bedeutendsten Standorte der Schokoladenproduktion. Erst gut 30 Jahre später begann Daniel Peter in der Schweiz mit seinem Freund Henri Nestlé und dessen Milchpulver an der Verbindung von Milch und Schokolade zu experimentieren. Bald galt die Schweiz als Land der Schokolade schlechthin, was daran lag, dass die Innovation dort mit viel Kapital lanciert und über das Image der Schweiz als urtümliche Hirtenrepublik erfolgreich vermarktet werden konnte.

Doch mit Alpenglühen und Kuhweiden hat die Milchindustrie wenig zu tun; Rinder sind für sie nicht mehr als Produktionseinheiten in Tierfabriken. Im Land der lila »Schokoladenkuh« sieht die Realität traurig aus: Neun von zehn Schweizer Kühen verbringen ihr Leben angekettet. Der Großteil der Milchkühe sieht niemals eine Weide – einer europäischen Kuh müssen im Durchschnitt zwei Quadratmeter Lebensraum genügen.

Ohnehin ist die heutige Milchkuh eine Qualzucht: Ihre Milchleistung wurde von 1500 Litern (1950) auf mittlerweile 10 000 Liter pro Jahr gesteigert; für das Tier bedeutet das ständige Schmerzen durch ein viel zu großes, zum Bersten gefülltes Euter. Da Kühe, wie alle Säugetiere, nur Milch geben, wenn sie ein Junges geboren haben, beginnt bereits ab einem Alter von 18 Monaten für die Kuh der Fortpflanzungsmarathon. Nach der künstlichen Besamung trägt sie neun Monate lang ihr Kalb aus, das ihr in der Regel zwei Tage nach der Geburt weggenommen wird.

Männlicher Nachwuchs sowie Tiere, die nicht als Milchkühe Verwendung finden, werden an Mastbetriebe verkauft und nach drei bis fünf Monaten geschlachtet. Länger hätten sie aufgrund der schlechten Haltung in engen Boxen ohnehin nicht überlebt – 170 000 Kälber unter drei Monaten sterben jedes Jahr aufgrund solcher Bedingungen. Sowieso weist die Milchproduktion einen regelrechten Verschleiß an Tieren auf: Unter normalen Umständen würde eine Kuh 20 Jahre alt, aufgrund der Überbeanspruchung ist sie aber nach fünf Jahren schon so »verbraucht«, dass sie geschlachtet wird. Bei etwa der Hälfte des in Deutschland produzierten Rindfleisches handelt es sich um Nebenprodukte der Milchindustrie.

Die Auswüchse der Milchwirtschaft hängen derart eng mit der Fleischindustrie zusammen, dass auch in dieser Hinsicht das zart schmelzende Schokoladenprodukt einen bitteren Nachgeschmack hinterlässt.

Zum Weiterlesen:

Sopie D. Coe, Michael D. Coe: Die wahre Geschichte der Schokolade.
S. Fischer, Frankfurt am Main, 1997

Greenpeace Magazin 3/09: Kinderschokolade

www.greenpeace-magazin.de/ index.php?id=5752

www.die-tierfreunde.de/inhalte/info/schutz/milch/milch.htm

http://www.aktiv-gegen-kinderarbeit.de/produkte/alt/kakao

www.rageandreason.de/vegan.htmlgutegruende

TV-Dokumentation »Schmutzige Schokolade«

http://mediathek.daserste.de/ daserste/servlet/content/

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