Die mit den Schafen tanzen

Natururlaubsziel Island

  • Nicole Quint
  • Lesedauer: 6 Min.
Der jährliche Schafabtrieb im Herbst ist ein Höhepunkt in Island, und tatsächlich wirkt Schäfchen-Zählen zwischen Gletschern und Geysiren alles andere als einschläfernd.
Schafabtrieb vor malerischer Kulisse
Schafabtrieb vor malerischer Kulisse

Tanzen ohne Takt und Rhythmus – das können Isländer besonders gut: Er vollführt den Wiegeschritt. Sie setzt stattdessen zum Fersenheber an, beginnt wild zu kreiseln und entzieht sich schließlich durch ekstatisches Hüpfen seiner Umarmung. Schafs-Polka könnte man den Tanz taufen, denn die eine Hälfte der Tanzpaare ist tatsächlich ein Schaf, die andere ein Schafwollpullover-Träger. Dargeboten wird das Ganze in einem Réttir, ein sternförmig angeordneter Pferch, der hoch im Norden Islands, in Midfjördur steht. Wie in allen isländischen Gemeinden werden auch hier alljährlich im Herbst die freilaufenden Schafe von den Sommerweiden im Hochland herunter in die Täler getrieben und dort nach Besitzern aussortiert. Jeder Bauer findet seine Tiere durch Markierungen am Ohr wieder. Freiwillig lassen sich die Schafe jedoch nicht danach absuchen. Deshalb schwingt sich immer ein Helfer über das Tier, packt es an den Hörnern und führt mit ihm ein Tänzchen auf. Während dieser Sortier-Aktion ist überraschend viel Deutsch auf dem Platz zu hören. Islandfans aus allen Regionen Deutschlands verbringen ihren Urlaub damit, den isländischen Bauern beim Schafabtrieb zu helfen. Sie sind nach ihrer Ankunft in Reykjavik solange die Westküste hochgefahren, bis kein Handynetz sie mehr fangen konnte, und warten nun auf immer neu eintreffende Tanzpartner.

Seit vier Tagen sind die Treiberkolonnen in Midfjördur unterwegs, um die Schafgruppen aufzuspüren. Den Sommer über leben die Schafe in den Grenzen riesiger »Allmend«, fressen dort bestes Gras und atmen reine Luft. »Bei euch nennt man das Bio-Haltung, in Island ist es seit Jahrhunderten eine schlichte Selbstverständlichkeit«, meint der alte Fridjof. Solange alles auf das Eintreffen neuer Schafe wartet, ist der stämmige Isländer, der gegen die Holzlatten des Pferches lehnt wie Kapitän Ahab in den Sturmböen, geschwätzig wie jemand nach drei Monaten Einzelhaft. Aber nicht die Schafe sind sein Thema, Fridjof schwärmt von den Pferden mit den schicken Fransenfrisuren, die man auf keinen Fall Ponys nennen darf. Keine andere Pferderasse auf der Welt sei so intelligent, mutig, folgsam und verlässlich wie die Isländer. Weder Sturm und Schnee noch Fels und Eis können ihm etwas anhaben. »Wolkenpferde« flüstert Fridjof, als gebe er einen der geheimen Namen Gottes preis. »Wir nennen sie so, weil sie oft aus den nebelverhangenen Höhen Islands hervortreten, als ob sie direkt aus den Wolken kämen.« Jetzt aber erscheint erst einmal die nächste Schafherde am Horizont, und Fridjof taucht ab. Genug geredet. Schon am Morgen sah der Himmel über Midfjördur aus wie auf Gauguins Südseebildern. In pink und bernsteinfarbenen Streifen ging die Sonne auf. Kurz vor Eintreffen der Schafherden legt sich ein grauer Filter über das Tal. Die Farben erscheinen jetzt noch unwirklicher als zuvor: spülmittelgrün, hustensaftbraun und knallblau – wie ein nachkolorierter Schwarzweißfilm sieht Island jetzt aus. Und die Schäfchen spielen mit der grünen Landschaft und den geröteten Gesichtern der Treiber Komplementärkontrast.

Es ist kalt, es regnet und ein strähniger Wind fährt unter die Jacke, aber mit jedem Meter klettert der Adrenalinpegel höher. Yogatechniken zur Entfachung innerer Hitze sind hier nicht gefragt, in Island reicht die Kraft des Lichts und der Farben, um einen wärmenden Rausch auszulösen. Der Blutdruck steigt, der Puls wird kräftiger, der Atem geht tiefer und die Konzentrationsfähigkeit erreicht die Schärfe von Rasierklingen. Weitere Stimulanzien sind Steinwüsten, Vulkane, Gletscher und ein tiefer gelegter Horizont, der selbst die kleinsten Hügel in mächtige Berge verwandelt. In allen Richtungen und soweit das Auge reicht: Island. Mal blubbernd und brodelnd, dann wieder eisig und still. Es ist Gottes Gegenentwurf zur Karibik. Dort flimmernde Hitze und triefender Schweiß, hier naturtrüber Charme und kühle Klarheit. Das Temperament der Isländer ist dem der Kariben aber durchaus ebenbürtig. Rund dreißig aktive Vulkane haben den hitzigen Charakter der Menschen ebenso geprägt wie ihre prekäre Lage auf zwei Kontinentalplatten. Island liegt auf dem Mittelatlantischen Rücken. Wie eine Narbe geht der diagonale Riss zwischen der Nordamerikanischen und der Eurasischen Platte durch die Insel. Drei bis vier Zentimeter driftet Island an diesem Spalt im Jahr auseinander. Wer mit solchen Naturgewalten lebt, kostet die Tage aus und verschiebt nichts auf morgen. Die Schafe haben unter dieser permanenten Bedrohung sogar zu einer buddhistischen Gelassenheit gefunden. Sie wissen: Es gibt kein Entkommen. Haben die Treiber sie erst einmal zwischen spitzen Felsen und rauen Lavafeldern entdeckt, stehen sie still wie in Harz gegossen, und die Island-Cowboys wissen genau, wie man sie nun in die richtige Richtung, die Berghänge hinunter und durch Flüsse treibt. Schäfchen-Flüsterer sind sie allerdings nicht. Sie brüllen, klatschen und rudern mit den Armen und werden von einem Trupp Bordercollies unterstützt.

Rund 520 000 Schafe teilen sich die Insel mit 320 000 Isländern und mit mindestens ebenso vielen Trollen, denn jeder Isländer verfügt über seinen höchstpersönlichen Hausgeist. Die sind zuständig für mysteriöse Glücksfälle, aber auch für unerklärliches Missgeschick, rätselhaften Schabernack und wahrscheinlich auch schuld daran, dass einige Schäfchen plötzlich ihren Herdentrieb ignorieren. Sie wollen nicht ins Trockene gebracht werden und brechen aus, als es kurz vor Erreichen des Pferches über eine Brücke gehen soll. Isländische Sagenhelden müssen Haudegen, Trinker und Dichter in einem sein. Bei isländischen Schäfchen-Fängern reicht Sattelfestigkeit, Ausdauer und Humor. Während ihnen der Regen auf den Rücken klopft wie ein ungeduldiger Geldeintreiber, büchsen ihnen die Schafe dreimal aus. Dann endlich ergießt sich die wollige Flut in den Réttir und staut sich in dessen Mitte zum Schafsee. Vom Greis, der auf einem Klappstuhl hockend das Geschehen beobachtet, bis zum dreijährigen Knirps, der unter den Schafen hindurch krabbelt, sind alle für die nächste Runde im Schafs-Tanz bereit.

Wenn am Abend dann alle Schafe heimgekehrt sind, beginnt im Gemeindehaus von Midfjördur der Réttir-Ball: Zu Rock- und Country-Klängen wird dann wieder getanzt. Diesmal harmonischer und mit weniger blauen Flecken verbunden. Und wenn einen das Sandmännchen später trotz aller Anstrengungen des Tages im Stich lässt, dann stehen genügend eingefangener Schäfchen zum Zählen bereit.

Anreise: Icelandair, Air Berlin, Lufthansa, Germanwings und Iceland Express steuern Reykjavik in der Hauptsaison von Deutschland im Direktflug an, und das von neun unterschiedlichen Flughäfen aus: Berlin-Tegel und Schönefeld, Düsseldorf, Stuttgart, Frankfurt und Hahn, Friedrichshafen, Hamburg und München. Die Anreise per Schiff und dem eigenen Auto
Fähre: SMYRIL LINE unterhält ab Hanstholm/Dänemark eine fahrplanmäßige Cruise- und Fahrzeugfähre nach Island. www.smyril-line.com
Schaf- und Pferdeabtrieb Der isländische Reiseveranstalter Arinbjörn Jóhannsson hat neben verschiedenen Reit- und Natursightseeing Touren die Teilnahme am Pferde- und Schafabtrieb in Midfjördur im Programm. www.abbi-island.is
Ausspannen: Das Solebecken »Blaue Lagune« liegt inmitten einer lakritzschwarzen Lavawüste. www.bluelagoon.com
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