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Grundschullehrer sind keine Hellseher

Streit in NRW um den Übergang zu den weiterführenden Schulen

  • Carsten Grün
  • Lesedauer: 5 Min.
Ende des gewagten Blicks in die Zukunft – Nordrhein-Westfalen (NRW) schafft die verbindlichen Empfehlungen für Grundschüler ab.
Dieser Tage gab es Zeugnisse in NRW. Nichts Ungewöhnliches, wenn da nicht die Abschaffung der Verbindlichkeit der Schulempfehlungen wäre. Eingeführt von der damaligen CDU/FDP-Landesregierung, rief das Empfehlungssystem schnell Kritik bei Eltern, Pädagogen und Verbänden hervor. Empfehlungen wird es allerdings weiter geben, nur müssen die Eltern sich nicht mehr daran halten. Allgemein sorgt das Ende des verbrieften Lehrermachtworts für Erleichterung.

Bei Gewerkschaften stößt die Schulrechtsänderung auf große Akzeptanz. »Wir befürworten die Abschaffung der verbindlichen Empfehlungen sehr«, sagte Ilse Führer-Lehner, zuständig bei der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) in NRW für den Bereich Grundschule. Allerdings hätte sich der GEW noch mehr Initiative der Landesregierung erhofft. »Wir wären sogar noch weiter gegangen und hätten jegliche Empfehlung abgeschafft. Das führt nur zu Fehlinterpretationen über die Stärken eines Kindes. Die jetzigen Empfehlungen können überhaupt nur als Orientierung gesehen werden«, so Führer-Lehner. Im Rückblick betrachtet die Gewerkschafterin die von Schwarz-Gelb eingeführte Empfehlungspolitik als komplett gescheitert. »Das hat nur Druck auf die Eltern ausgeübt und war besonders negativ für die Kinder.« Führer-Lehner erhofft sich von der rot-grünen Schulpolitik auch mehr Mut. »Solange wir das gegliederte Schulsystem haben, wird dieser Druck da sein. Die Aufteilung der Kinder erfolgt immer noch viel zu früh. Mindestens sechs Jahre sollen die Kinder zusammenbleiben.«

Ähnlich sehen das auch Lehrer. »Uns fehlen eigentlich mindestens zwei Jahre zur besseren Einschätzung. Dazu kommt noch die viel früher einsetzende Pubertät mit ihren Auswirkungen. Das wird viel zu wenig berücksichtigt«, sagt ein Lehrer aus dem Ruhrgebiet, der nicht genannt werden will. Besonders kritisch wird von den Lehrern der Prognoseunterricht gesehen. In dem Testunterricht am Gymnasium werden Kinder ohne Gymnasialempfehlung getestet, ob sie die Qualität für den dortigen Schulbesuch haben. »Das ist viel zu viel Druck gewesen. Die Kinder kommen in eine fremde Umgebung, werden schriftlich und mündlich von einer fremdem Lehrperson geprüft und wissen ganz genau, dass sie nicht versagen dürfen, sonst sind sie aussortiert. Das ist ziemlich brutal«, so der Pädagoge. Nur rund 28 Prozent der getesteten Kinder konnten im Anschluss auf ein Gymnasium gehen. Einige Eltern gingen auch den Rechtsweg und klagten. Fast 2000 Widersprüche gegen die verbindliche Schulempfehlung wurden im vergangenen Jahr eingereicht.

Auch Schulleiterin Birgit Karetta kann mit der Aufhebung der verbindlichen Empfehlung gut leben. »Ich finde es gut, dass die Eltern wieder entscheiden«, sagt die Chefin der Overberg-Grundschule in Oberhausen. Allerdings befürwortet Karetta auch weiterhin, dass es das abschließende Gutachten über die Schüler weiter geben wird. »Die Beratung ist wichtig und wir gehen dann davon aus, dass dies von den Eltern auch ernst genommen wird«, sagt sie weiter. Ähnlich äußert sich ihr Kollege Wolfgang Dörr, der aber auch Bedenken hinsichtlich der Aufhebung hat. Der Schulleiter der Diesterweg-Grundschule in Siegen verweist auf die eventuelle Zunahme von Rückläufern aus Schulen, also Kinder, die mit den hohen Anforderungen eines Gymnasiums nicht klarkommen. Dennoch sieht Dörr die Abschaffung durchaus positiv. »Wir haben das hier bei uns nie dogmatisch gesehen. Wir beraten die Eltern. Aber in erster Linie ist das Kind das Kind der Eltern und nicht unser Kind«, so Dörr.

Bildungsexperten waren seit der Einführung der Verbindlichkeit der Empfehlungen schärfste Kritiker des Auslesemodus. »Ich finde es sehr positiv und fachlich gut begründet, dass die Landesregierung die Verbindlichkeit abgeschafft hat«, sagt Ernst Rösner vom Institut für Schulentwicklungsforschung der Technischen Universität Dortmund. Rösner stützt sich dabei auf wissenschaftliche Studien. »Es ist nachgewiesen, dass rund 40 Prozent der Empfehlungen nicht mit den wirklichen Kompetenzen der Schüler übereinstimmen. Langzeitstudien in Hamburg zeigen, dass 70 Prozent der Schüler, die keine Empfehlung für die Gymnasien gehabt haben, in der achten Klasse immer noch in der Schulform drin sind. Die Kinder entwickeln sich in Abhängigkeit zu ihrer besuchten Schulform. Viele landen durch die Empfehlungen in Bildungsgängen, die sie unterfordern«, so Rösner. In der Studie, die unter dem Begriff KESS, Kompetenzen und Einstellungen von Schülerinnen und Schülern, bekannt ist, werden alle zwei Jahre die Daten von Schülern erhoben. Auch in Berlin gebe es ähnliche Ergebnisse, so der Bildungsexperte. Rösner nimmt bei den Schulempfehlungen ausdrücklich die Grundschullehrer in Schutz. »Das sind keine Hellseher. Aber die Leute wissen genau, dass sie einem Kind mit einer Hauptschulempfehlung die spätere Teilnahme am gesellschaftlichen Leben verwehren können.«


Elternwille versus Lehrergutachten

Überlässt man den Eltern die Schulwahlentscheidung, verfestigen sich die sozialen Unterschiede im Bildungssystem. Diesen Schluss legt die Schulstudie IGLU (2006) nahe. Kinder aus der oberen Dienstklasse (höhere Beamte und Angestellte, Akademiker) wechseln demnach auch bei schon durchschnittlichen Schulleistungen auf ein Gymnasium. Trifft die Grundschule die Entscheidung liegt dieser Schwellenwert höher.

Angehörige der unteren Dienstklasse (Arbeiter, Ungelernte) schicken ihre Kinder zwar auch eher aufs Gymnasium, wenn sie selbst darüber entscheiden dürfen. Allerdings ist der entsprechende Leistungswert zum einen höher als bei den Akademiker-Kindern und zum andern entspricht dieser Wert annähernd dem der Lehrerempfehlung. Offenbar orientieren sich auch bei Gewährung des Elternwahlrechts Arbeiter meist an den Empfehlungen der Lehrer, während Akademiker sich öfter darüber hinwegsetzen. jam

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