Vom Genom zur Epigenetik

Vor zehn Jahren wurde die vollständige Sequenz des menschlichen Erbguts veröffentlicht

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 4 Min.

Nic Volker aus Madison (USA) war gerade zwei Jahre alt, als sich in seinem Darm so viele Fisteln bildeten, dass er kaum noch etwas essen konnte. Obwohl Ärzte den Jungen zigmal operierten, ging es ihm zusehends schlechter. Erst eine im Jahr 2010 durchgeführte Genomanalyse legte offen, dass in Nics Erbgut das Gen XIAP mutiert ist. Gewöhnlich resultiert daraus eine Blutkrankheit, die sich durch eine Knochenmarktransplantation therapieren lässt. Eine solche wurde vor sieben Monaten auch bei Nic durchgeführt. Seitdem gehe es dem inzwischen Sechsjährigen deutlich besser. Und er könne sogar wieder normal essen, berichtet Francis Collins, der Chef der US-Gesundheitsbehörde NIH, jetzt im Fachblatt »Science« (Bd. 331, S. 546) und würdigt damit zugleich die vor zehn Jahren erfolgte vollständige Sequenzierung des menschlichen Genoms.

Zwar hatte damalige US-Präsident Bill Clinton diese Großtat der Wissenschaft bereits am 26. Juni 2000 offiziell verkündet. Publiziert wurden die Daten jedoch erst acht Monate später. Am 15. Februar 2001 erschien in der britischen Zeitschrift »Nature« die Erbgut-Version des öffentlich finanzierten Humangenomprojekts, das von Collins geleitet wurde. Am Tag darauf kam dessen Konkurrent, der Biochemiker und Privatunternehmer Craig Venter, in »Science« zum Zug. Die Euphorie war seinerzeit groß. So schwärmte etwa Clinton, dass das Wissen um das Humangenom der Menschheit ungeheure Heilkräfte bescheren und die »Diagnose und Therapie der meisten oder sogar aller Krankheiten revolutionieren« werde.

Die Frage, was aus diesen Hoffnungen geworden ist, wird von Wissenschaftlern heute unterschiedlich beantwortet. Das gilt auch für die einstigen Konkurrenten Collins und Venter. Während Collins eine »wichtige Wegmarke« in der Erbgutforschung erreicht sieht und mit Blick auf die Therapie des kleinen Nic Volker den baldigen klinischen Einsatz der Genom-Sequenzierung erwartet, bleibt Venter zurückhaltend. Gewiss reiche die Qualität der genetischen Daten für wissenschaftliche Analysen, schreibt er in der gleichen »Science«-Ausgabe. Aber man sei noch weit entfernt, darauf eine zuverlässige individuelle Diagnostik von Krankheiten oder Gesundheitsrisiken zu gründen.

Natürlich gibt es Ausnahmen. Eine betrifft die Prävention von Brustkrebs durch den sogenannten BRCA1-Gentest. Denn wie zahlreiche Studien nahelegen, sind Mutationen des Gens BRCA1 für knapp zehn Prozent aller Brustkrebsfälle verantwortlich. Bei anderen Krankheiten – Diabetes, Schizophrenie, Alzheimer etc. – ist das Zusammenspiel von Erbgut und Umwelt so komplex, dass Gentests kaum verwertbare Resultate liefern und eher zur Verunsicherung der Patienten beitragen. Erschwerend kommt hinzu, dass selbst viele Ärzte bei der Auswertung von genetischen Daten rasch überfordert sind. So ergab eine Befragung der Mitglieder der »American Medical Association«, dass nur zehn Prozent der Ärzte genug über Gentests wissen, um diese auch diagnostisch anwenden zu können.

Seit dem Jahr 2001 wurden Milliarden für die Erforschung genetischer Krankheitsursachen ausgegeben. Doch abgesehen von einigen Krebsmitteln und neuen Medikamenten etwa gegen Osteoporose oder die Autoimmunerkrankung Lupus blieb der pharmazeutische Ertrag des Humangenomprojekts hinter den Erwartungen zurück. Der US-Krebsforscher und Nobelpreisträger Harold Varmus sah sich deshalb unlängst zu der Bemerkung veranlasst: »Das Humangenom fördert die Wissenschaft derzeit mehr als die Medizin.«

Recht neu ist die Erkenntnis, dass der Mensch nicht wie ursprünglich angenommen rund 100 000 Gene besitzt, sondern nur rund 20 000. Und damit ungefähr so viel wie ein Fadenwurm. Allerdings ist für die Entwicklung eines Organismus nicht die Zahl der Gene entscheidend, sondern deren Funktion. Was den Menschen molekularbiologisch vom Wurm unterscheidet, sind unter anderem die vielen Regulatorgene, die bestimmen, wann in einer Zelle welches Gen an- bzw. abgeschaltet wird. Im Allgemeinen gilt: Je komplexer ein Organismus ist, desto mehr Gene für regulatorische Proteine findet man in seinem Erbgut. Aber auch die riesigen DNA-Bereiche, die nicht für Proteine codieren und daher fälschlich als »junk DNA« (Schrott-DNA) bezeichnet werden, erfüllen teilweise wichtige Aufgaben. Erst jüngst haben Forscher darin Bauanleitungen für sogenannte microRNAs entdeckt, die mit dafür sorgen, dass in einer Zelle die richtigen Proteine hergestellt werden. Kommt es hierbei zu Fehlern, können Krankheiten entstehen. Tatsächlich sind in Krebszellen andere microRNAs aktiv als in gesunden Zellen.

Aus zahlreichen Studien geht überdies hervor, dass ohne Kenntnis der epigenetischen Prozesse in der Individualentwicklung die aus der Sequenzierung des Humangenoms gewonnenen Daten nur von begrenztem Wert sind. Wissenschaftler aus mehreren Nationen haben sich deshalb 2010 zum »International Human Epigenome Consortium« zusammengeschlossen, um in den kommenden Jahren die DNA-Methylierungsmuster verschiedener menschlicher Zelltypen zu identifizieren. Zur Erklärung: Auf der Erbsubstanz DNA und den sie umgebenden Proteinen befinden sich kleine chemische Markierungen, sogenannte Methylgruppen, die unter anderem die Genaktivität kontrollieren. Da die individuellen Methylierungsmuster durch Umwelteinflüsse so verändert werden können, dass beispielsweise Krebs entsteht, dürfte sich ohne essentielle Fortschritte in der Epigenetik die vor zehn Jahren prophezeite Revolution in der Medizin weiter verzögern.

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