Jerusalem schweigt, Ramallah handelt
Israel fürchtet Ende der Gaza-Blockade
In einem Punkt sind sich Israelis und Palästinenser in diesen Tagen ausnahmsweise einig: Der Rücktritt Husni Mubaraks hat beide Parteien in einen tiefen Schock versetzt. Was nun, wenn der große Bruder in Ägypten fort ist, seine schützende Hand nicht mehr über den Nahen Osten hält? In Israel weiß man auch am Tag drei nach dem historischen Umsturz noch nicht, wie die neuen Kräfteverhältnisse bewertet werden sollen.
Das ganze Dilemma wurde in der kurzen Mitteilung deutlich, die das Büro des Ministerpräsidenten am Sonntag als bislang einzige Reaktion auf den Umbruch in Ägypten veröffentlicht hatte: Benjamin Netanjahu begrüße die Ankündigung des ägyptischen Militärs, dass das Land seine Abkommen mit Israel weiterhin einhalten werde. Punkt. Für Solidaritätsbekundungen oder gar Glückwünsche zum Sieg eines Volkes über seinen Despoten hat man in Jerusalem zurzeit keinen Nerv. Zu groß ist die Angst vor der Kraft aus dem Süden. Zu viel steht auf dem Spiel.
Die Lage ist verzwickt: Eigentlich sollte Israel den Kampf für Demokratie in den arabischen Nachbarländern unterstützen. Doch fürchtet der jüdische Staat die Folgen, die der Verlust des starken Verbündeten Ägypten mit sich bringen könnte. Von Beginn der Proteste an hielt Netanjahu an dem bedrohlichen Szenario fest, an Israels südlicher Grenze könnte ein zweites Iran entstehen. Über die Erhöhung des Verteidigungsetats ist bereits laut nachgedacht worden. Von einer weiteren Isolation Israels in der arabischen Welt ist die Rede.
Und von einem Erstarken der Hamas, die die instabile politische Lage in Ägypten nutzen könnte, um weitere Waffen und Kämpfer in den Gaza-Streifen zu bringen. Hamas-Führer Mahmud al-Zahar hat Ägypten bereits aufgefordert, Elektrizität und Wasser in das abgeschottete Küstengebiet zu leiten und den Grenzübergang Rafah für den freien Warenaustausch zu öffnen. Ein Alptraum für die israelische Regierung, die mit ihren Einfuhrbeschränkungen bislang alles unternimmt, um die radikalen Kräfte und mit ihnen die 1,5 Millionen Bewohner des Gaza-Streifens zu strafen. Wie dem begegnet werden soll, darüber schweigt die politische Führung in Jerusalem.
In Ramallah hat man indes auf die neue Situation reagiert – mit einem lange angekündigten, aber bislang nie vollzogenen Schritt: Laut Agenturberichten hat der palästinensische Ministerpräsident Salam Fajad gestern sein Rücktrittsgesuch bei Präsident Mahmud Abbas eingereicht. Der Rücktritt der Regierung soll eine Neubesetzung der meisten Ministerposten ermöglichen. Zudem sollen die seit mehr als zwei Jahren überfälligen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen bis September abgehalten werden. Ob dies neuen Schwung in den Friedensprozess bringt, ist allerdings fraglich. Erst am Sonnabend war auch der palästinensische Chefunterhändler Saeb Erekat nach einer Affäre um ein Datenleck in seiner Behörde zurückgetreten. Und Netanjahu hatte erst kürzlich beim Besuch Angela Merkels deutlich gemacht, dass er für eine Wiederaufnahme der Verhandlungen allein die Palästinenser in der Pflicht sieht.
Es könnten schwere Zeiten für den Nahostfriedensprozess anbrechen. Der palästinensische Menschenrechtsaktivist Bassam Eid ist überzeugt davon, dass die Palästinenser die ersten Verlierer der Revolution sein werden. »Warum? Weil unser Konflikt verschoben wird. Wir verschwinden gerade nicht nur von der Medienagenda – wir verschwinden auch von der Agenda der internationalen Gemeinschaft.«
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