GÜNTER KUNERT: Keine Modelle!

  • Lesedauer: 2 Min.

Die Aufklärung ist bis in die letzten Winkel und an ihr Ende gelangt, ohne dass wir selber über uns aufgeklärt genug wären, uns bessere Schicksale zu bereiten. Aber vielleicht regt sich eine winzige Hoffnung drin, dass durch eine Gestalt wie Kleist sich der bunte Wust der Vergangenheit, der erbärmliche Fundus des Gewesenen vor unseren neugierigen Augen zu einem Muster ordnet, nach dem wir selber unsere Kreise ziehen. Dass wir, erschüttert über dessen unwürdiges Alter, über seine elende Verschlissenheit, dieses Musters ganz einfach überdrüssig würden – das mag eine geringfügige Chance sein. Nicht im Entwurf neuer Grundsätze und Prinzipien oder neuer Modelle, welche auf der Basis verdeckt vorhandener diesen doch nur aufs neue anheimfielen, allein in der Abweichung von Muster und Modell, wozu die Sichtbarmachung ihrer tristen Zwecke gehört, besteht ein Schimmer von Rettung, ein ganz minimaler. Wir müssten von einem anderen Baum der Erkenntnis essen, um in den Stand der Unschuld zurückzufallen, aus dem heraus für uns anschaulich würde, wie wir wirklich sind. Aber solche Unschuld, die Substantielleres ist als die Gleichsetzung mit Naivität, trägt den Glanz der Auserwähltheit, einer, die keineswegs etwas Erfreuliches bezeichnet. Das wissen wir seit biblischen Tagen. Es ist die Auserwähltheit als Prüfstein, vor dem die jeweilige Weltordnung die Prüfung nicht besteht. Versammelt zum Gedenken an Kleists einstige Anwesenheit, das kein besonders befriedigendes sein kann, sollten wir uns in dieses Gedenken miteinschließen, denn was uns mit Kleist verbindet, ist so grundsätzlich geworden, dass es die Distanz zwischen Gestern und Heute zusammenbrechen lässt. Die Vergangenheit holt uns immer ein, wobei sie Gestalten wie Kleist als ihre Emissäre vorausschickt.

(Aus: Günter Kunert: Diesseits des Erinnerns. Hanser München 1982)

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