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Dialektik durch die Hintertür

Wie das Konzept der Emergenz Wissenschaftlern hilft, Komplexität besser zu verstehen

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 4 Min.

Der Potsdamer Astrophysiker Hans-Jürgen Treder erklärte im Gespräch einmal, dass er Friedrich Engels für einen der »bedeutendsten Philosophen des 19. Jahrhunderts« halte. Für diese Einschätzung gibt es in der Tat gute Gründe. Nur einer sei hier namentlich genannt: Emergenz. Abgeleitet von dem lateinischen Verb »emergere« (= auftauchen), wird mit diesem Begriff gewöhnlich der Umstand beschrieben, dass komplexe Systeme Eigenschaften aufweisen, die sich nicht auf die Eigenschaften ihrer Elemente zurückführen oder sich aus diesen ableiten lassen. So ist, um ein alltägliches Beispiel zu geben, Wasser flüssig, während die Moleküle von Sauerstoff und Wasserstoff, die Wasser konstituieren, diese Eigenschaft bei gleicher Temperatur nicht besitzen.

Gewiss haben Wissenschaftler, die sich heute mit dem Thema Emergenz beschäftigen, weitaus komplexere Gegenstände im Blick, wenngleich die Fragen, die sie dabei stellen, im Ansatz schon in Engels' »Dialektik der Natur« zu finden sind: Wie entwickelt sich Leben aus unbelebter Materie? Auf welche Weise bringt ein materielles Gehirn den Geist hervor? Wie entstehen komplexe soziale Systeme, wenn sie nicht bewusst von jemandem entworfen werden?

Einen vielbeachteten Vorstoß zur Beantwortung solcher Fragen unternahm unlängst der US-Physiknobelpreisträger Robert B. Laughlin, in dessen Buch »Abschied von der Weltformel« (Piper, 336 S., 19,90 €) der bemerkenswerte Satz steht: »Der Mythos, kollektives Verhalten folge aus den Gesetzen, geht in der Praxis genau in die falsche Richtung; stattdessen folgt Gesetzmäßigkeit aus kollektivem Verhalten.« Für Laughlin sind sogar die Gesetze Newtons emergente Gesetze, da sie erst beim kollektiven Zusammenschluss von Quantenobjekten zu Makromaterie in Existenz treten. Was für Gesetze gilt, gilt natürlich auch für die Eigenschaften komplexer Systeme. Lebendig zu sein wäre sonach die emergente Eigenschaft einer speziellen Anordnung von chemischen Substanzen, die man Zelle nennt. Im Allgemeinen versteht Laughlin unter Emergenz die qualitative Resultante quantitativer Systemveränderungen, was tatsächlich nicht weit von Engels entfernt ist, der vom dialektischen Umschlag verschiedener Bewegungsformen der Materie sprach und dabei anmerkte: »Bei aller Allmählichkeit bleibt der Übergang von einer Bewegungsform zur andern immer ein Sprung, eine entscheidende Wendung.«

Wie man solche Sprünge mit den Instrumentarien der modernen Wissenschaft beschreiben kann, wird jetzt in einem von Jens Greve und Annette Schnabel herausgegeben Sammelband dargelegt, der den schlichten Titel »Emergenz« (Suhrkamp, 415 S., 16 €) trägt. Aus den Beiträgen wird ersichtlich, dass die Emergenz ein Gegenmodell darstellt sowohl zum Reduktionismus als auch zum psychophysischen Dualismus, dem zufolge der Geist eine von den Hirnprozessen unabhängige Existenz besitzt. Nicht nur religiöse Menschen halten dies für eine akzeptable Hypothese, da schwer einsichtig ist, wie das Gehirn den Geist »produzieren« soll. Nach dem Konzept der Emergenz findet so etwas auch nicht statt. Vielmehr ist der Geist der emergente Innenaspekt bestimmter komplexer neuronaler Systeme, an denen man, werden sie von außen betrachtet, nichts als neurophysiologische Prozesse wahrnimmt.

Es gehört zu den Vorzügen des Bandes, dass einige Autoren darin auch das Phänomen der sozialen Emergenz beleuchten. Neben Karl Marx an einer Stelle wird dabei als theoretischer Kronzeuge mehrfach der französische Soziologe Émile Durkheim erwähnt, der es ablehnte, soziale Phänomene nur als die Summe individueller Handlungen zu begreifen. Zwar gestand er ein, dass Elemente des psychischen Lebens im Sozialleben wiederzufinden seien. Auf sozialer Ebene wirkten jedoch »ungeahnte Kräfte, deren Gesetze mittels Seelenanalyse allein nicht aufgefunden werden können«. Hierin liegt ein wesentlicher Grund, warum sich die Entwicklung sozialer Systeme häufig nicht vorhersagen oder gar planen lässt. Anders als gemeinhin angenommen wusste auch Engels um dieses Problem. In einem sogenannten Altersbrief distanzierte er sich 1890 von der Auffassung, die Geschichte nehme einen vorgezeichneten Lauf. In Wirklichkeit, schrieb er, führten die Konflikte vieler Einzelwesen immer wieder zu unvorhergesehenen Resultaten: »Denn was jeder Einzelne will, wird von jedem anderen verhindert, und was herauskommt, ist etwas, das keiner gewollt hat.«

Darüber hinaus liegt der Emergenz in sozialen Systemen oft eine chaotische Dynamik zugrunde. Das heißt: Kleine, eher singuläre Ereignisse geben dem historischen Verlauf eine neue Richtung. Um diesen Sachverhalt zu illustrieren, hat der Osnabrücker Philosoph Achim Stephan in seinem Aufsatz ein recht aktuelles Beispiel gewählt: die »friedliche Revolution« von 1989. Hätte am späten Abend des 9. November ein Stasi-Oberstleutnant nicht befehlswidrig den Schlagbaum an der Bornholmer Straße in Berlin geöffnet, vielleicht wäre es noch in der Nacht zu schweren Ausschreitungen und damit zu einem Verlauf der Wendeereignisse gekommen, die man sich heute kaum ausmalen mag.

Um es abschließend noch einmal zu betonen: Wer heute über Emergenz nachdenkt, und die Autoren des vorliegenden Sammelbandes tun dies auf höchst originelle Weise, sollte eines nicht vergessen: Die Ursprünge dieses Konzepts liegen auch in einer philosophischen Tradition, die heute gern belächelt und für Dinge in Haftung genommen wird, die ironischerweise erst aus der Missachtung jener Tradition resultierten.

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