Kritisches Orchester

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  • Antje Rößler
  • Lesedauer: 3 Min.
Kritisches Orchester

Neben Armee und Katholischer Kirche ist das Sinfonieorchester eine der letzten Institutionen mit felsenfester Hierarchie. Hier bestimmt der Dirigent, wo es lang geht. Eine Rückmeldung der Musiker ist nicht vorgesehen. Da aber insbesondere der dirigierende Nachwuchs von solch einem Feedback profitiert, gründeten Prof. Christhard Gössling, ehemaliger Rektor der Hochschule für Musik Hanns Eisler Berlin, und Klaus Harnisch, ehemaliger Geschäftsführer des Dirigentenforums des Deutschen Musikrates, das Kritische Orchester. Das stellt die gewohnten Verhältnisse auf den Kopf: Erfahrene Instrumentalisten aus verschiedenen Berliner Klangkörpern geben jungen Dirigenten Tipps und Ratschläge. Die neunte Dirigentenwerkstatt des Kritischen Orchesters fand am vergangenen Wochenende in der Musikhochschule »Hanns Eisler« statt.

Geprobt wurden fünf Instrumentalsätze aus verschiedenen Epochen – von Schubert bis Wagner. Die vier durch ein Auswahldirigieren ermittelten Teilnehmer sind ganz unterschiedliche Persönlichkeiten: Da gibt es den Koreaner Seokwon Hong, der zielgerichtet und mit genauer Klangvorstellung an die Sache herangeht. Oder die hochkonzentrierte Karin-Ben Josef aus Israel, die ihre Gesten so bewusst wie eine Tänzerin gestaltet. Joolz Gale aus Großbritannien ist hingegen äußerst impulsiv und vermag binnen Sekunden eine mitreißende Atmosphäre zu erzeugen. Der sanfte Amerikaner Scott Seaton wiederum erweist sich nicht als Taktstockherrscher, sondern als Kommunikationstalent.

»Wir wählen nicht unbedingt die besten Kandidaten aus, sondern auch solche, von denen wir den Eindruck haben, sie könnten am meisten vom Kritischen Orchester profitieren«, erzählt Prof. Christian Ehwald, der Künstlerische Leiter des Projekts. »Gearbeitet wird vor allem an der nonverbalen Kommunikation. Man muss Blickkontakt aufnehmen und die Instrumentalisten inspirieren.« Solche Dinge merken die Musiker immer wieder an. Einmal sagt der erste Geiger: »Den Rhythmus können wir alleine spielen. Wir brauchen von Ihnen Inspiration.« Und bei Scott Seaton beginnt der Orchesterklang zu leuchten, als ihn ein Cellist darauf hinweist, er solle den Atem fließen lassen.

An den Musikhochschulen können angehende Dirigenten so etwas nur beschränkt lernen. »Meine Studenten stehen zwei bis drei Stunden pro Semester vor einem Orchester«, sagt Christian Ehwald, der an der Musikhochschule den Studiengang Dirigieren leitet. »Da klafft eine Lücke zwischen dem Anspruch und den finanziellen Möglichkeiten.« Das Taktschlagen wird daher meist vor zwei oder drei klavierspielenden Kommilitonen geübt. »Ein Flügel kann aber nicht so viele klangliche Nuancen hervorbringen«, räumt Ehwald ein. Vor allem die Verzögerung nach dem Taktschlag, mit der ein Orchester reagiert, sei am Klavier schwer zu vermitteln. »Unerfahrene Orchesterleiter dirigieren daher oft genau auf den Schlag und nicht etwas voraus.«

Christian Ehwald sieht das Kritische Orchester aber auch als Zeichen für einen Wandel im Musikleben. »Vor fünfzig Jahren wäre so ein Projekt boykottiert worden, weil es das Autoritätsverhältnis im Orchester auf den Kopf stellt. Aber inzwischen geht der Trend weg vom Alleinherrscher am Pult hin zu einer wirklichen Partnerschaft zwischen Dirigent und Orchester.«

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